Kapitel 59: Atemlos

44 4 1
                                    

   [Nora:]

Ich bin gelaufen. Ich weiß gar nicht mehr, wohin. Ich habe nur jede Ecke abgesucht, an der Zoe sich hätte befinden können. Jeden verfluchten Stein umgedreht. Sogar auf dem verdammten Schrottplatz und Leon und Matt sind genauso ratlos und besorgt gewesen wie ich. Und sie würden mich nicht in dieser Hinsicht verarschen. Wir sind keine besten Freunde, aber es geht hier um Zoe. Das würden sie mir nicht antun. Oder doch?

Ich habe keine Zeit, sie zu hinterfragen, wenn die beiden sofort alles stehen und liegen lassen, um mir bei der Suche zu helfen.

Als Zoe selbst am Abend nicht auffindbar ist, spüre ich, wie mich die Angst immer mehr zu lähmen beginnt. Die Tränen, die in meinen Augen brennen, blinzele ich hartnäckig weg, aber sobald mir Leon diesen einen besorgten Blick – scheiße nochmal, Leon – kämpfe ich nicht mehr dagegen an. Es ist sowieso zwecklos. Für wen würde ich ohnehin die Starke spielen? Zoe ist sowieso nicht da. Sie. Ist. Verdammt. Nochmal. Nicht. Da.

Aber ich wünschte, sie wäre es.

»Kannst du sie immer noch nicht erreichen?«, fragt Matt, sobald er außer Atem zu mir gelaufen kommt. Seine kinnlangen blonden Haare total zerzaust, aber ich sehe vermutlich nicht anders aus. Genauso zerstreut und verzweifelt.

Sofort schüttele ich heftig den Kopf. Egal, wie oft ich es auch versucht habe, sie ist kein einziges Mal rangegangen. Anfangs kam noch das Freizeichen und ich hatte jedes Mal Hoffnungen, dass sie vielleicht dieses verdammte Mal abnehmen könnte. Hat sie aber nie. Irgendwann sind die Anrufe nicht einmal mehr durchgegangen. Entweder ist ihr Handy leer oder sie hat es eigenhändig ausgeschaltet. Ersterer Gedanke hat mich beinahe an den Rand der Verzweiflung gebracht. Selbst wenn Zoe uns dann erreichen wollen würde, sie würde es nicht können. Letzterer Gedanke hat mich zu einem kleinen Teil erleichtert. Das hat nämlich bedeutet, dass sie noch lebt. Dass sie sich nicht dazu entschieden hat, all das hier zu beenden. Mich verdammt nochmal nicht wirklich für ein und allemal zu verlassen. Oder hat sie gerade deshalb ihr Handy ausgeschaltet? Damit niemand sie vom Gegenteil überzeugen kann? Weil sie mit allem abgeschlossen hat?

Fuck, ich will das nicht. Und viel weniger möchte ich, wieder in Tränen ausbrechen, weil es mir gottverdammt nochmal rein gar nichts bringt. Wenn mir Heulen Zoe zurückbringen würde, gerne. Ich würde dir literweise Tränen weinen. Das tut es aber nun mal nicht. Und gerade das bringt mich dann schließlich trotzdem zum Weinen.

Verfluchte Scheiße.

Bis mein Handy klingelt.

Sofort zerre ich es aus meiner hinteren Hosentasche und blicke erwartungsvoll auf das Display, nur um festzustellen, dass es nicht Zoe ist. Allein das lässt die Tränen wieder in meinen Augen brennen, die ich diesmal wegzublinzeln versuche. Es ist Nadine. »Was ist?«, frage ich ungeduldig und sichtlich enttäuscht, »Hast du irgendwas Neues über Zoe herausgefunden?« Was, wenn Zoe in der Zeit anruft, in der ich gerade mit Nadine telefoniere?

»Nein«, sagt sie und ich bin versucht, auf der Stelle wieder aufzulegen, aber ich will wissen, warum Nadine ansonsten angerufen hat. Ist vielleicht irgendwas anderes passiert? »Aber du solltest Nachhause kommen. Es ist schon echt spät. Es ist zu gefährlich, weiterzusuchen.«

»Werde ich ganz sicher nicht«, zische ich wütend, »Ich werde bestimmt nicht Nachhause gehen, wenn Zoe noch irgendwo da draußen ist.« Ich kann es kaum fassen. Sie ruft mich an – hält mich davon ab, Zoe zu suchen –, nur weil es schon spät ist? Nur weil jeder andere verdammte Mensch Zuhause sitzt und bald zu Bett geht? Zoe wird es nicht. So, wie ich sie kenne, wird sie es die ganzen nächsten Tage auch nicht. Nicht, wenn ich sie nicht finde.

»Du wirst nicht im Dunkeln weitersuchen, Nora. Ich verstehe, dass du besorgt bist, aber so wirst du sie sowieso nicht finden können. Komm Nachhause und wir suchen direkt morgen früh weiter.«

UnbreakableWo Geschichten leben. Entdecke jetzt