Kapitel 28: Grenzüberschreitung

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   »Nora«, höre ich jemanden sagen, doch drehe mich nur um – halte mir die Ohren zu, weil ich nur in Ruhe gelassen werden möchte.

»Lass mich weiterschlafen«, murmele ich genervt vor mich hin, aber dieser Jemand lässt nicht locker. Er schüttelt mich jetzt sogar an der Schulter.

»Nora, dein Handy klingelt. Thea will irgendwas von dir«, erwidert die Person und sagt damit genau die Worte, die ausreichen, um mich die Augenlider aufschlagen zu lassen und nach meinem Handy zu fischen. Sobald ich es in der Hand halte, nehme ich an, ohne mir das Display genauer angeschaut zu haben.

»Ja?«, frage ich. Thea ist eine der einzigen Personen, denen ich es erlauben würde – ohne sauer zu werden –, mich zu jeder Uhrzeit anzurufen und aus dem Bett zu scheuchen.

»Hey, Nora. Bist du gerade erst aufgewacht?«, will Thea skeptisch wissen, »Dir ist schon klar, dass wir uns in einer Stunde zum Picknicken verabredet haben, oder?« Fuck, stimmt ja. Weil Zoes Semesterferien vorbei sind und übermorgen zurückfahren wird. Sie wird gehen und wieder aus meinem Leben verschwinden. Wie damals.

Dieser Gedanke hinterlässt eine schmerzhafte Kluft in meinem Herzen.

Trotzdem richte ich mich auf und tue so, als würde mir dieser Gedanke nichts ausmachen.

»Ja und ich habe es erstklassig verpennt. Wortwörtlich«, erwidere ich trocken. Die Session gestern ging länger als gedacht. Ich habe gerade einmal sechs Stunden geschlafen.

»Schön, dass du deinen Sinn für Humor nicht verloren hast. Schaffst du es in einer Stunde, dich fertigzumachen? Ich wollte nämlich fragen, ob ich dich mitnehmen soll. Ich fahre ja sowieso«, bietet sie an und ich streiche mir überfordert durchs Haar.

»Mal schauen. Ich glaube, Ben fährt aber auch.«

»Okay, schreib mir einfach. Bis gleich.«

»Bis gleich«, verabschiede ich mich und werfe mein Handy aufs Bett. Gott, warum mache ich mir wegen Zoe überhaupt so einen Stress? Sie ist eine einfache Freundin. Nur meine Ex. Mehr nicht. Warum nimmt es mich dann so sehr mit? Warum habe ich deshalb sogar Elena zu mir gerufen und habe mit ihr geschlafen, um diese dämlichen Gedanken loszuwerden? Um die Leere in mir zu füllen? Was allerdings nicht gelungen ist, weil das niemand bisher konnte. Ich habe es nur gehofft. Hoffen ist nur nicht immer genug.

Zoe und ich haben Wochen zusammen verbracht. Mal mit unseren Freunden, mal ganz alleine. Letzteres ist die ganze Zeit über gefährlich gewesen, aber es ist nie unangenehm gewesen. Wir haben uns ziemlich gut verstanden, auch wenn sie in der Küche die Augen verdreht hat, während ich versucht habe, ihr zu erklären, wie man richtig kocht, weil sie erzählt hat, dass sie in ihrer WG immer nur Fertiggerichte isst oder Essen bestellt. Oder als sie mir mit einem verwegenen Lächeln – das ihr damals wie heute viel zu sehr steht – mein Sektglas aus der Hand genommen hat, weil sie nicht wollte, dass ich zu viel trank, und ich ihren verdammten Atem zu deutlich auf meiner Haut gespürt habe. Oder als ich ihr – und Ben – eine Standpauke gehalten habe, die sie mit strammen, hochgezogenen Schultern zerknirscht hat über sich ergehen lassen, weil es natürlich nicht in Ordnung gewesen ist, dass Ben und Zoe nach einem Filmeabend das Wohnzimmer in einem unmöglichen Zustand zurückgelassen haben – was auch immer sie da getrieben haben (Warum verhalten sich die beiden immer wie Kleinkinder, wenn sie etwas zusammen machen?). Oder als sie mich in die Welt der traurigen Lieder abtauchen lassen wollte, weil sie meinte, dass Schmerz eine Facette der Wahrheit sei, die man schwer verfälschen könne – vor allem in Musik. Und selbst wenn, würde die Musik trotzdem genug Leute erreichen, dass es im Endeffekt egal wäre, ob sie echt sei oder nicht, solange Menschen die Musik und den Text fühlen und nachempfinden können – solange es genug Menschen gibt, die diesen Schmerz tatsächlich gespürt haben und sich darüber austauschen können, um sich weniger allein mit ihren Problemen zu fühlen. Wir leben in einer Gesellschaft. Natürlich sehnen wir uns danach, nicht alleine, sondern im Kollektiv so verkorkst zu sein.

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