Kapitel 36: Ein Blick in den Abgrund

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   »Ich... Kann ich dich etwas fragen?« , sage ich, weil ich mich nicht habe regen können. Wir haben uns bestimmt mehrere Minuten lang gegenübergestanden und haben beide nichts gesagt. Aus dem Augenwinkel konnte ich nicht einmal sehen, ob sich Zoe überhaupt bewegt hat.

Ich habe gesagt, dass ich das mit ihr nicht kann, aber tief im Inneren weiß ich, dass ich es aber will. Ich will, dass ich es kann, und ich will, dass es funktioniert. Wenn man jemanden so lange liebt wie ich, will man um das kämpfen, was man möchte. Zoe kann nicht zum Greifen nah und trotzdem nicht zu erreichen sein. Ich weigere mich, das zu glauben.

»Alles«, antwortet Zoe sofort und ihre Aufrichtigkeit hätte mich fast zum Schmunzeln gebracht, wenn meine Gedanken nicht so sehr an mir nagen würden.

Zoe scheint es auch zu wollen. Diese Beziehung. Das merke ich einfach. Sie will, dass es funktioniert, selbst wenn sie es nicht offen zeigt. Sie wird mich nur nicht drängen.

»Dass du damals den Kontakt mit mir abgebrochen hast... Ist es wirklich nur aus den Gründen gewesen, die du mir damals genannt hast? Oder eben?« Dass sie dachte, ich würde keinen Kontakt mehr mit ihr haben wollen? Dass sie Angst habe? Dass ich wütend sei? Dass ich einfach Abstand bräuchte? Denn wenn das alles ist, was dahintersteckt, hat Zoe recht. Dann weiß ich nicht, ob ich das hier mit ihr noch einmal könnte. Vielleicht sind wir beide erwachsener geworden, aber ich kann die Vergangenheit tatsächlich nicht vergessen. Vielleicht aber auch, weil Zoe nie so gewesen ist. Die Zoe, die ich kannte, hätte niemals deswegen den Kontakt mit mir abgebrochen, wenn sie gewusst hätte, dass ich gerade meine Eltern verloren hatte. Selbst nach jeder Streiterei ist sie sichergegangen, dass es mir gut geht. Also, so gut, wie es jemandem gehen kann, wenn man sich gerade gestritten hat. Einmal hatte ich mir im Sportunterricht den Fuß verstaucht und Zoe und ich hatten uns auf dem Nachhauseweg gestritten, als sie mich an der Schule abgeholt hat. Danach bin ich beleidigt weggehumpelt, aber Zoe ist mir hinterhergekommen und hat mich im Huckepack Nachhause gebracht. Natürlich ist sie auch noch wütend gewesen und hat das auch deutlich anklingen lassen, aber sie ist nicht einfach gegangen. Sie ist immer für mich da gewesen, wenn ich sie gebraucht habe. Gerade deshalb habe ich es nie kommen sehen, dass sie mir irgendwann den Rücken zukehren würde, nur weil wir nicht mehr zusammen gewesen sind. Was ist damals in Zoes Kopf vorgegangen? Was hat sie dazu gebracht, sich abzuwenden?

Vielleicht sind es nur meine Hirngespinste und irgendwelche wilden Märchen, weil ich die Wahrheit einfach nicht einsehen kann, aber ich brauche Gewissheit. Egal, was es für uns – für eine mögliche Beziehung bedeutet –, ich will nur die Wahrheit. Steckt wirklich nicht mehr dahinter? Habe ich mich wirklich so sehr in Zoe getäuscht?

»Nora, das willst du nich-«

»Also gibt es einen anderen Grund?«, falle ich ihr mitten ins Wort. Plötzlich werde ich ganz Ohr, aber ich sehe Zoe an, dass sie nicht darüber reden möchte. Oder dass es ihr verdammt schwerfällt, darüber zu reden. Was zur Hölle verschweigt sie nur? »Es ist okay, wenn es mir nicht gefallen wird. Ich muss es nur wissen«, füge ich hinzu, »Und wir müssen ehrlich zueinander sein, wenn das mit uns diesmal funktionieren soll, Zoe. Keine Geheimnisse mehr.« Obwohl sie die Lippen hart und fest aufeinanderpresst, kann ich erkennen, dass sie weiß, dass ich recht habe.

»Okay«, presst Zoe schließlich geschlagen hervor und atmet einmal tief durch, ehe sie weiterspricht, »Äh ... Ich werde das, was ich dir gleich zu erzählen habe, nicht sagen, weil ich Mitleid von dir möchte und so bezwecken will, dass du mir eine zweite Chance gibst. Ich will nur ehrlich sein. Und du hast die Wahrheit von mir verlangt.«

»Ich weiß«, entgegne ich sanft, »Ich werde dir so was nicht vorwerfen. Für wen hältst du mich?«

»Nicht für so jemanden, falls du das denkst«, sagt sie schnell, »Ich weiß das. Ich habe nur... Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll, ohne dass es so rüberkommt. Oder überhaupt. Es wird keine schöne Geschichte werden«, ich nicke, weil ich das auch nicht erwartet habe, »Ich... Ähm...«, sie bemüht sich, ihre zittrigen Lippen unter Kontrolle zu bekommen, während ich ihr stumm zuhöre und meine Augen nicht von ihr lassen kann. »Du meintest vor ein paar Wochen, ich wäre besser als sie... Als meine Eltern«, sie schluckt schwer, »Das bin ich nicht. Definitiv nicht. Nachdem ich Schluss gemacht habe, habe ich mich so sehr in Partys, Alkohol und Rauchen verloren, dass ich am nächsten Tag nie mehr wusste, wie viel ich eigentlich getrunken hatte, mit wem ich alles geschlafen hatte, an welchen Orten ich mich hatte alles übergeben müssen. Ich hatte keine Ahnung mehr, wo oben und unten war – was mit mir war. Um es anders auszudrücken: Mir ging es richtig beschissen und ich habe dieses Gefühl zugelassen. Ich... Fuck.« Ihre Stimme klingt zittrig, auch wenn sie versucht, gefasst auszusehen. Jetzt fühle ich mich auf einmal unfassbar schlecht, sie dazu gedrängt zu haben. Ich wollte die Wahrheit wissen, um herauszufinden, ob ich mir eine Zukunft mit Zoe vorstellen kann, aber ich wollte sie nie dazu zwingen, Dinge zu offenbaren, zu denen sie nicht bereit ist. Nicht, wenn ich sehe, wie verdammt schwer es ihr fällt.

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