Kapitel 40: Auf Wiedersehen

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   [Nora:]

Hand in Hand spazieren Zoe und ich mit ihrem Gepäck zum Bahnhof. Zoe hat es immer wieder abgelehnt, dass ich ihren Koffer trage, aber ich habe mich stur gestellt und ihn ihr einfach aus der Hand gerissen und seither nicht mehr zurückgegeben. Mit jedem Meter und jeder Minute, die wir näher zum Zielort kommen, fühlen sich meine Beine schwerer an. Als würden sie mich nicht dorthin tragen wollen, weil sie wissen, was ich mir damit nur antun werde. Ich werde Zoe gehen lassen müssen.

Oh Gott, niemals in meinem Leben habe ich nur einen Gedanken daran verschwendet, jemals eine Fernbeziehung führen zu müssen. Ich weiß nicht, wie das sein wird und ob ich das aushalten kann, aber ich werde es müssen, wenn ich Zoe nicht verlieren möchte. Und das möchte ich garantiert nicht.

›Nur noch ein Jahr‹, versuche ich mir selbst einzureden. Sie muss nur noch ein weiteres Jahr studieren und dann ist sie mit ihrem Bachelor fertig und kann in die Berufswelt eintauchen. Ich werde das hier nur ein einziges Jahr durchmachen müssen. Das kann doch wohl nicht allzu schwer sein. Oder?

Unwillkürlich muss ich an das Foto denken, dass ich heute Morgen von Zoe geschossen habe, als sie noch geschlafen hat – als die Morgensonne ihr Gesicht und ihren Körper in einem traumhaften Zustand für ein Bild zurückgelassen hat. Es hat mich in den Fingern gejuckt und ich habe einmal nachgegeben. Ich würde nicht wieder mit der Fotografie anfangen, aber ich brauchte dieses Foto. Ich konnte nicht anders. Ich brauchte etwas, woran ich mich festkrallen können werde, solange Zoe nicht hier sein würde.

»Da sind wir«, verkündet Zoe wie die frohe Botschaft, sobald wir an ihrem Gleis stehen. Die Anzeigetafel gibt uns noch zwanzig lächerliche Minuten zusammen. Viel zu kurz für diesen langen Abschied. Zum ersten Mal in meinem Leben würde ich mich freuen, wenn der Zug Verspätung hätte, aber selbst das würde nicht im Ansatz ausreichen. Ich weiß nicht, ob mich das mehr wurmt oder die Tatsache, dass es Zoe ziemlich wenig auszumachen scheint. Auf der anderen Seite kann ich deshalb nicht wütend sein, sobald ich ihre warmen braunen Augen auf mir ruhen sehe und sie mir dieses unheimlich sanfte Lächeln schenkt. Das ist eines der wenigen Augenblicke, in denen sie ihren weichen Kern inmitten ihrer harten Schale preisgibt: Wenn sie das Gefühl hat, dabei nichts zu verlieren. Wenn sie weiß, dass es das wert ist. Daher liebe ich diesen Anblick zu sehr, um ihr böse zu sein, dass sie all das viel gelassener sieht als ich. Mein Inneres fühlt sich vielmehr wie ein einziges Chaos an. Irgendwie ... bin ich noch nicht ganz bereit, sie gehen zu lassen. Nicht, nachdem ich so viele Jahre gebraucht habe, um sie wieder an meiner Seite zu haben. Nicht so schnell schon.

»Jetzt hasse ich uns dafür, dass wir dieses Problem nicht schon vorher angegangen sind«, murmele ich mürrisch vor mich hin, »Kaum sind wir wieder zusammen und du musst ein paar Tage später schon abreisen.« Dass ich ihr meine Gefühle aus genau diesem Grund erst so spät gestanden habe, ignoriere ich getrost.

Daraufhin entfährt ihr ein kehliges Lachen und sie zieht mich in eine noch innigere Umarmung, während sie mir einen zarten Kuss auf die Stirn haucht, der mich mit einem warmen Gefühl im Bauch zurücklässt. »Ich bin ja nicht aus der Welt. Du wirst mich allerspätestens zu den Semesterferien wiedersehen, aber ich gehe stark davon aus, dass ich öfters mal für ein Wochenende zurückkommen werde. Und wenn du es gar nicht mehr aushältst, kannst du mich immer noch besuchen kommen«, sagt sie und schenkt mir ein keckes Zwinkern.

»Und ob. Darauf kannst du dich verlassen«, murmele ich ihr ernst gegen die Lippen, ehe ich ihr einen nächsten Kuss auf die Lippen hauche. Er schmeckt bittersüß.

Ich hasse Verabschiedungen und ich hasse es noch mehr, dass es so sehr an mir nagt, dass Zoe jetzt verschwinden wird. Ich weiß, dass sie nicht für immer gehen wird. Sie wird oft genug wiederkommen und notfalls kann ich auch einen Besuch einrichten, aber allein der Gedanke, dass sie nicht mehr in meiner unmittelbaren Nähe sein wird, macht mich fertig. Auf einmal kommen einfach Ängste und Zweifel auf, denen ich lange genug aus dem Weg gehen konnte.

»Was ist los?«, fragt mich Zoe und sieht mich ernsthaft besorgt an, »Du schaust so, als würde ich sterben, und nicht so, als würde ich nur ein paar Stunden von hier entfernt zur Uni gehen.« Ich weiß, dass sie mir damit nicht weh tun wollte, aber sie hat einen verflucht wunden Punkt getroffen. So sehr, dass ich meine Worte nicht mehr zurückhalten kann.

»Und was, wenn wirklich?«, hauche ich, blinzele die aufkommenden Tränen weg und ignoriere meine Stimme, die zu brechen droht, »Was, wenn dir wirklich irgendwas passiert, während ich hier nichts mitbekomme? Ich ... ich erst viel zu spät davon erfahre? Ich nicht sofort bei dir und für dich da sein kann?«, ich stoppe kurz und schaue mit verzerrtem Gesicht zu Boden, »Oh Gott, was, wenn ich dich wirklich verliere?« Was, wenn all das Glück hier nur von kurzer Dauer gewesen ist?

Es wäre nicht das erste Mal, dass man mir alles genommen hat, was mir jemals lieb und teuer gewesen ist. Das Leben ist ein verschissenes Arschloch.

»Hey! Schau mich an, Nora«, sie nimmt mein Gesicht behutsam in ihre Hände und schenkt mir ihr sanftestes Lächeln, »Ich gehe nirgendwohin. Natürlich kann immer irgendwas passieren, aber wir sollten nicht direkt vom Schlimmsten ausgehen. Ich weiß, dass es definitiv leichter gesagt ist als getan und dass du jeden Grund hast, genau das vom Schicksal zu erwarten. Ich kann dir nicht versprechen, dass alles gut gehen wird, aber glaub mir, so schnell wirst du mich nicht los«, ihr Lächeln wird breiter, auch wenn die Zärte und Wärme darin nicht verloren geht, »Unkraut vergeht schließlich nicht.«

Während sie mir liebevoll mit ihren Daumen die Tränen, denen ich längst freien Lauf gelassen habe, aus dem Gesicht zu wischen versucht, schlage ich lachend nach ihr, obwohl sich mein Lachen vermutlich wie ein Glucksen oder ein Schluchzen anhören dürfte. »Du bist so scheiße, weißt du das?« Ich kann aber nicht leugnen, dass mich diese Worte etwas aufmuntern.

»Aber auch das liebst du an mir, oder nicht?«, gibt sie schmunzelnd zurück und zieht mich dann an sich, um meinen Kopf an ihre Brust zu betten, »Also hör schon auf zu weinen. Ich will nicht, dass das die letzte Erinnerung an uns sein wird, bevor ich gehen muss.« Ein Paar warmer Arme legen sich um mich. »Du kannst mich anschreien oder nach mir schlagen oder sonst was, aber ich hasse es, dich weinen zu sehen. Ich sehe dich viel lieber lachen«, setzt sie leise hinzu. Ein weiteres Mal kann ich meinen Tränenfluss nicht zurückhalten und schmiege mich fester an sie.

Oh Gott, manchmal hasse ich es wirklich, was diese Frau mit meinen Gefühlen anstellt.

»Bilde ich mir das nur ein oder weinst du deshalb sogar noch mehr?«, sagt sie lachend, aber es wirkt nicht spöttisch. Sie klingt so liebevoll und behutsam, dass es mir beinahe das Herz bricht und ich mich beinahe erneut meinem Tränenfluss hingeben möchte, doch dieses Mal halte ich die nächste Welle zurück.

»Nur weil du so einen kitschigen Mist von dir gibst!«, werfe ich ihr lautstark vor, aber sie hat recht. Ich will auch nicht, dass wir uns so verabschieden müssen. Deshalb löse ich mich schließlich von ihr und wische mir die Tränen fort, die nach ein paar Schluchzer endlich versiegen. »Pass auf dich auf, ja?«

»Werde ich. Ich ruf' dich an, sobald ich Zuhause angekommen bin«, erwidert sie und schenkt mir einen kurzen Kuss auf die Lippen, »Für dich verschiebe ich sogar das Duschen auf morgen Früh.« Sie zwinkert mir zu und es sieht sogar noch verflucht heiß bei ihr aus. Sie strahlt so viel Selbstbewusstsein aus.

Ich kann mir ein dummes Grinsen nicht verkneifen und zucke mit den Achseln. »Ich muss deinen Gestank ja nicht ertragen.« Sobald ihr offensichtlich die Kinnlade runterfällt, lache ich beherzt.

So sollte es sein. Leicht und unbeschwert. Ohne den Gedanken an das Morgen zu verschwenden. Ohne die Ängste, es könnte keine Zukunft für uns beide geben, zuzulassen. Ohne die Sorge, man könnte mir mal wieder das nehmen, was ich lieben gelernt habe, über mich siegen zu lassen.

Das Leben ist viel zu kurz, um sich von Ängsten und Sorgen zerfressen zu lassen.

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