Kapitel 39: Wer bist du?

40 3 2
                                    

   Betretenes Schweigen ist alles, was den Raum erfüllt. Ruby und ich haben uns beide auf die Couch gesetzt, aber wir haben den maximalen Abstand zueinander aufgesucht, den man auf dieser Couch haben kann. Dabei weiß ich nicht, ob das daran liegt, dass ich krank bin oder doch eher an den Geschehnissen von gestern. Ich habe ihr in meinem Schlafanzug und einer Decke um mich aufgemacht und sehe vermutlich aus, wie ein wandelnder Zombie, während sie wie ein Model in mein Haus reinspaziert. Irgendwie ist das gerade nicht fair, aber es ist auch nicht sie, die krank ist.

»Du hast heute wieder deine Brille an«, stelle ich schließlich fest, weil ich die Stille langsam nicht mehr ertrage. Wenn sie nur hier ist, um mit mir zusammen starr an die Decke zu blicken, hätte sie auch zuhause bleiben können.

Sie nickt nüchtern und angespannt. Sie wirkt nervös. So habe ich sie noch nie erlebt. Noch nie mit mir zumindest. »Tobi mag mich mit Brille nicht wirklich, deshalb schaue ich meistens, dass ich sie nur dann anziehe, wenn ich ihn gar nicht oder nur kurz sehe«, erzählt sie mit neutraler Miene und ich unterdrücke den Impuls, das Gesicht zu verziehen.

Das lässt sie wirklich mit sich machen? Ich hätte meiner Partnerin nur den ausgestreckten Mittelfinger gezeigt und gesagt, dass sie gefälligst damit leben solle. Schließlich ist es nicht ihre Entscheidung, was ich anziehen und tragen würde, sondern nur meine, selbst wenn wir in einer Beziehung wären. Meine Partnerin hat meine Entscheidung über mein äußerliches Auftreten gefälligst zu akzeptieren.

Okay, vielleicht ist meine Sicht auf Tobias ehrlich gesagt ziemlich voreingenommen, aber ich kann diesem Kerl immer weniger abgewinnen. Er ist nicht mal jemand, mit dem ich überhaupt gerne befreundet wäre. Aber was soll ich sagen? Mit Rebecca bin ich auch zusammen gewesen und sie ist das Letzte.

»Ich finde, die Brille steht dir. Ich mag sie«, ich zucke mit den Achseln, »Ich mag dich aber auch ohne. Ist mir eigentlich egal.« Allen voran mag ich auch einfach Ruby. Mir ist es egal, wie sie sich kleidet oder was sie trägt. Also nein. Es ist mir nicht egal. Es macht etwas mit mir, wenn ihr etwas besonders gut steht und sie es gerne trägt. Es strahlt so viel Selbstbewusstsein aus. Ich liebe es, wenn sie etwas trägt, in was sie sich wohl fühlt, weil sie ehrlich glücklich wirkt und das macht mich dann glücklich.

Scheiße.

Ich sollte echt nicht daran denken. Nicht jetzt. Nicht, wenn...

»Wir müssen uns nicht gleich trennen.«

»Danke«, haucht Ruby leise und schaut mir nicht in die Augen. Es scheint so, als würde sie bewusst den Blickkontakt vermeiden. Ihr Grau wirkt noch immer eine Spur kälter. Als würden die kälteren Temperaturen des sich anbahnenden Winters auch auf ihre Augenfarbe schlagen.

»Warum wolltest du unbedingt vorbeischauen?«, probiere ich es mit einem Themenwechsel. Vielleicht regt das mehr Gesprächsstoff an. Außerdem würde mich das wirklich brennend interessieren.

»Ich wollte mich selbst vergewissern, dass es dir wirklich gut geht. Nicht, dass du eine Lügnerin wärst, aber Menschen neigen dazu, ihre eigene Gesundheit entweder runterzuspielen oder zu überdramatisieren«, antwortet sie und ich blase meine Wangen mit Luft auf, nur um diese im nächsten Moment auszustoßen.

Es sollte mir nicht gefallen, dass sie ernsthaft an meiner Gesundheit interessiert ist. Sie wird Spielchen spielen. Wie Rebecca. Ich weiß nicht, wer sie ist. Gerade ist sie wieder die Ruby, die ich über all die Wochen kennengelernt habe, aber gestern war sie die Ruby, auf die ich zum ersten Mal gestoßen bin. Eine Annahme von multiplen Persönlichkeiten wäre ziemlich weit hergeholt, also wird ein Gesicht davon gespielt sein. Es ist nur die Frage: Ist es die kalte oder die freundliche Maske? Wer versteckt sich hinter der Person Ruby? Was will sie mit ihrem Verhalten bezwecken?

UnbreakableWo Geschichten leben. Entdecke jetzt