Kapitel 33: Du hast mich nicht verdient

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   [Zoe:]

»Hey«, begrüße ich Ben knapp und möchte eigentlich direkt in Noras Zimmer verschwinden, um mich fertig und auf dem Weg Nachhause zu machen, doch Ben hält mich mit seinem Blick zurück – schürzt die Lippen. Er mustert mich eindringlich und scheint in meine Seele blicken zu wollen. Das, was ich auf gar keinen Fall zulassen werde. Niemand darf das und schon gar nicht ohne meine Erlaubnis. Vielleicht meine Familie, vielleicht Nora, aber alles in mir drinnen ist für andere Tabu, weil sich dort die nackte, ungeschminkte Wahrheit befindet. Viel tiefere Abgründe als ein einfaches ›Mir geht es nicht gut‹.

»Was ist?«, frage ich ihn schließlich, weil sein forschender Blick nicht aufhören, er aber auch nichts sagen will.

»Ich mag dich echt, Zoe, aber was ist eigentlich dein Scheißproblem? Hättest du nicht mit allen anderen Frauen außer Nora schlafen können? Du solltest wissen, wie sehr ihr eure Trennung zugesetzt hat«, wirft mir Ben forsch entgegen. Er spricht all die Dinge aus, die mir die Stimme der Vernunft in mir drinnen auch zigtausende Male gesagt hat. Leider habe ich es nicht geschafft, auf sie zu hören, als mich Nora geküsst hat. Es war, als wäre in dem Moment ein Damm in mir gebrochen. Als hätte sie mit einem einzigen verfluchten Kuss das Sicherheitsseil durchtrennt und mich in ihre Arme stürzen lassen.

Daraufhin verschränke ich die Arme. Ich weiß, es ist albern, aber ich habe das Gefühl, mich so wie ein trotziges Kind verteidigen zu müssen – etwas Distanz zwischen ihm und mir bringen zu müssen. Er darf einfach nicht wissen, wie es in mir drinnen aussieht. »Ich habe nicht den ersten Schritt zu dieser Sache gemacht. Das war Nora. Ich habe es nur zugelassen«, ich seufze und verlagere das Gewicht ständig vom einen Fuß zum anderen, »Vielleicht hätte ich das auch nicht sollen, aber es ist nun mal nicht leicht, jemanden abzuweisen, den du unbedingt willst«, erklärt ich erstaunlich ruhig.

Das Knistern zwischen uns hat nie aufgehört. Als sie gestern mein Tattoo geküsst hat, wusste ich, dass es vorbei war – dass ich mir selbst nicht mehr länger vormachen konnte, Nora nicht um jeden Preis zurückzuwollen. Ich wusste zuvor schon, dass ich sie noch liebe, aber ich wollte mich ihr zu keinem Zeitpunkt aufdrängen. Gestern wollte ich zum ersten Mal wieder um ihre Liebe und nicht um ihre Vergebung kämpfen. Vermutlich hat sie sich nichts dabei gedacht, als sie mein Tattoo berührt hat, aber es hat mir die Welt bedeutet. Auch jetzt noch spüre ich ihre Lippen an meinem Handgelenk.

Ich weiß nur, dass ich es nicht darf. Ich habe nicht das Recht, mich ihr aufzuzwingen, egal, wie gern ich es auch wollen würde. Aber als sie vorhin gehen wollte, hat alles in mir geschrien, sie nicht gehen zu lassen. Sie an mich zu ziehen und sie nie mehr loszulassen. Nicht wie damals. Ich wollte diesmal dieses Leben mit Nora, aber ich wusste nicht mehr, ob sie mich wollte. Für einen winzigen Moment hatte ich diese dämliche Angst, Nora könnte aus dieser Tür gehen und nie wiederkommen. Wie es mein Vater getan hat. Wie es meine Mutter getan hat. Weil alle, die ich liebe, mich am Ende verlassen haben. Egal, aus welchen Gründen. Selbst wenn meine Mutter meinte, sie würde nur das Beste für mich wollen, indem sie mich weggibt, hat sie sich dagegen entschieden, dass wir das zusammen hätten durchstehen können. Weil das Eltern nun mal tun, wenn sie ihre Kinder lieben. Und ich weiß, dass meine Mutter das tut. Es hat sich damals nur nicht wie Liebe angefühlt. Wie Abstoßung. Ablehnung. Hass. Aber nicht wie Zuneigung. So was versteht man als sechsjähriges Kind noch nicht.

»Du willst noch was von ihr? Warum sagst du ihr das denn nicht?« Mit dieser Frage habe ich gerechnet. Wie man sich beinahe immer bei der Frage ›Wie geht's dir?‹ auf ein ›Gut und dir?‹ einstellt, selbst wenn alles den Anschein macht, dass dem nicht so ist. Man würde dennoch so darauf antworten.

»Weil ich sie nicht verdient habe, Ben. Wenn sie also überhaupt noch irgendwas empfinden sollte, dann soll es ihre alleinige Entscheidung sein. Ich möchte sie mit meinem Geständnis nicht dazu drängen. Sie soll sich vorher genügend Gedanken machen können, ohne dass sie ein schlechtes Gewissen wegen mir haben müsste. Gefühle machen alles nur komplizierter.« Nora hat sich verändert, aber sie ist im Grunde die liebe und fürsorgliche Person von früher geblieben, auch wenn ihre Hülle härter und fremder geworden ist. Es würde ihr weh tun, mich abzuweisen. Das hat man auch bei Elena gesehen. Diesen Schmerz will ich Nora nicht antun. Ich habe es nicht verdient, dass sie wegen mir leidet. Ich habe es aber verdient, dass genau dieser Anblick mir selbst furchtbar weh tun würde.

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