55. Kapitel

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Mit Kopfhörern in den Ohren, sah ich dem Regen zu, wie er gegen die Fenster unserer Schule peitschte. Meine Lehrerin erzählte irgendetwas über die amerikanische Geschichte, doch es interessierte mich nicht.

Als ich heute Morgen aufgestanden bin, hat sich mein Körper ungewöhnlich schwer angefühlt. Ich fühlte mich schon den ganzen Morgen kraftlos, nachdem ich einen Albtraum nach dem anderen durchlebt hatte.

Und der Gedanke daran, dass morgen mein Geburtstag war, trug nicht gerade dazu bei, dass es mir besser ging, im Gegenteil - er stiel mir meine ganze letzte Kraft. Morgen vor vier Jahren war der Todestag meiner Eltern. Wie sollte ich das nur aushalten?

In meinem Nacken spürte ich den Blick von Jace, der sich wie jede Stunde in meine Haut brannte. Wie es ihm wohl damit ging? Zu wissen, dass morgen der Todestag unser Eltern war und wir Geburtstag hatten. Zu wissen, dass wir an einem Tag trauerten, an dem man eigentlich feiern sollte.

Ich sollte darüber nicht nachdenken, dachte ich mir. Er hatte sich dazu entschieden mich zu verlassen. Es war seine Entscheidung, seine ganz allein. Er hätte anders handeln können, er hätte bei mir bleiben können, doch scheinbar war ich ihm nicht wichtig genug. 

Ich hätte alles für ihn getan. Verdammt ich hätte mein Leben für seines gegeben, doch scheinbar hatte er nicht mal ansatzweise das Selbe für mich empfunden wie ich für ihn. Für mich, seine Schwester, seinen Zwilling.

"Avery, hier spielt die Musik. Und nimm die Kopfhörern aus den Ohren, sonst sind sie meine.", wütend stand meine Lehrerin vor mir. Die gesamte Klasse sah mich an, manche kichernd, manche verwirrt und andere tuschelten. Nur eine einzige Person sah mich anders an.

Traurig, bemitleidend, mit Sorge.

Sorge? Die konnte er sich sonst wohin stecken.

Stumm sah ich Mrs. Sander an, bevor ich meine Sachen nahm und den Unterricht verließ. Ich hörte nur noch ihre Rufe, doch ich ignorierte sie. Ich konnte hier keine weitere Sekunde bleiben. Ich hielt das einfach nicht aus.

Hinter mir hörte ich Schritte, die schneller und lauter wurden. "Avery warte!"

"Lass mich in Ruhe Jace, ich hab keine Kraft, um mit dir zu streiten.", seufzte ich leise und beschleunigte meinen Gang. Es stimmte, jedes Wort, dass ich heute sprach, ging mir unfassbar schwer über die Lippen. Es kostete mich soviel Energie, dass ich das Gefühl hatte ich würde hunderte Kilo stemmen. Dabei war noch nicht mal heute der Tag, was sollte das dann morgen werden?

"Ich will nicht mit dir streiten Ave.", sanft griff er an meine Schulter, sodass ich stehen blieb. Unter normalen Umständen hätte ich mich jetzt gewehrt, doch das war nicht der Fall. Mir fehlte jegliche Lebendigkeit. Ich fühlte mich leerer und schwächer als das ganze letzte Jahr.

"Was willst du dann.", müde und gequält starrte ich nach oben in seine Augen, die mich besorgt und mit Tonnen an Schmerz ansahen. In meinen fand er wahrscheinlich nur Leere. Keine Gefühle, keinen Ausdruck. Nur einfache, schmerzhafte Leere.

"Ich weiß du hasst mich Avery, aber ich weiß wie schlecht es dir geht, ich sehe es doch, ich fühle es. ", vorsichtig sah er mich an. Mit Angst, dass er etwas falsches sagte, dass ich ihn von mir stoßen würde, anders reagiere als er erwartete. "Was weißt du schon. Ja, mir geht es schlecht. Und? Was willst du dagegen machen? Für mich da sein wie die letzten Jahre auch? Nein danke, darauf kann ich gerne verzichten."

Ich entzog meine Schulter aus seinem Griff, der sich schmerzhaft in meine Haut gebrannt hatte. "Ich kann es dir erklären Avery. Aber ich weiß nicht, ob du es verstehen oder akzeptieren würdest." Das Blut schien mir in den Adern zu gefrieren, eine unangenehme  Kälte breitete sich in mir aus - stechend, wie tausend Messer.

Wollte ich es wirklich hören? Könnte ich die Wahrheit verkraften?

"Nein, nicht heute Jace und auch nicht morgen. Das halte ich nicht aus. Dazu bin ich nicht bereit. Mir geht es schon schlimm genug." Es fiel mir ungewöhnlich leicht das zuzugeben. Selbst vor Mace war ich selten so ehrlich. Das musste an meinem Schlafmangel und der ganzen Situation allgemein liegen. 

"Dann lass uns wenigstens heute und morgen füreinander da sein. So wie früher." Ironisch lachte ich leise auf. 

"Ernsthaft? Wie deutlich muss ich dir das noch machen Jace. Ihr habt mich die letzten Jahre, wo ich euch gebraucht hätte im Stich gelassen. Ihr erwartet, dass ich euch freudestrahlend in die Arme falle, aber ich ertrage es nicht einmal in eurer Nähe zu sein, ohne dass alles in mir wehtut.

 Ihr habt mir das Herz aus der Brust gerissen und darauf rumgetrampelt als wäre es nichts wert. Weißt du wie sich das anfühlt, sich ständig zu fragen was man falsch gemacht hat, was mit dir nicht stimmt? Verdammt, wir standen uns so nahe. Wir vier. Aber ihr habt ohne mich entschieden. Ihr seit einfach gegangen. Ihr habt mich zurückgelassen, als hätte ich euch nie was bedeutet, als gäbe es mich nicht." 

Traurig sah ich ihn an. Das war vermutlich das erste Mal, wo ich ihm meine Gefühle zeigte, wo ich ihn in mein Inneres sehen ließ. In ein Meer voller Trauer und Schmerz.

"Und weit du was das Schlimmste ist? Mum und Dad wussten es die ganze Zeit über. Alle wussten es, alle sahen wie es mir ging, aber niemand hat etwas gesagt." Eine kurze Stille umgab uns. Nur wenige Sekunden. Sekunden, die sich anfühlten wie eine Ewigkeit. 

"Es ist nicht schön zu wissen, dass man allen egal ist, dass es niemanden gibt, dem man etwas bedeutet. Ich habe das so satt Jace. Lieber bin ich für immer allein, als von allen hintergangen zu werden." Ich wartete gar nicht mehr darauf, dass er antwortete, sondern drehte mich um und ging Richtung Ausgang. Ich wollte nur noch nach Hause.

"Ich hatte nicht vor dich zu verlassen Avery. Aber ich hatte kein Wahl.", rief er mir hinterher.

"Man hat immer eine Wahl Jace.", sagte ich leise zu mir. Ich war schon zu weit weg, als dass er es hören konnte. 

Man hat immer eine Wahl, wiederholte ich die Worte in meinem Kopf. 

Hold me - Heart of IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt