73. Kapitel

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"Vergesst es, niemals.", sagte ich und sah sie fassungslos an. Das konnten sie nicht ernst meinen. Kleine, feine Messerchen der Panik bohrten sich in mein Körper und hinterließen schmerzhafte Stiche. 

"Mom hätte es so gewollt.", meinte Jace und ich schüttelte demonstrativ den Kopf. Nie im Leben. 

"Nein, ganz sicher nicht. Vergesst es, ich trage dieses Kleid nicht. Das kann ich Mum nicht antun.", erwiderte ich fest entschlossen.

 Schuldgefühle fingen wieder an, in mir zu brodeln. 

"Du hast früher immer gesagt, dass du es einmal tragen willst und Mum hat dir versprochen, dass du es bekommst, wenn du alt genug bist." Kyle sah mich eindringlich an und rief Erinnerungen vor, bei denen ich Angst hatte, dass sie immer mehr verschwammen, bis nichts mehr von ihnen übrig war. 

Vor meinem Auge erschien das kleine schwarzhaarige Mädchen, was begeistert das strahlend blaue Kleid mit den Schmetterlingen, Blumen und Glitzersteinchen betrachtete.

"Mum, darf ich das Kleid anziehen?", hatte das kleine Mädchen gefragt - die strahlenden Augen auf das lange blaue Kleid geheftet, das ihre Mutter trug.

"Wenn du alt genug bist mein Schatz.", hatte die wunderschöne Frau erwidert, während sie ihrer Tochter liebevoll über den Kopf strich.

"Und wann bin ich alt genug?", fragte die 7-jährige hoffnungsvoll und voller Ungeduld weiter.

"Wenn du zu einer wunderschönen, jungen, starken Frau herangewachsen bist und mit einem wundervollen jungen Mann in die Schule zum Homecoming Ball fährst.", lächelte die Frau. 

"Ihhh, Jungs sind doof." Die Frau lachte herzlich und nahm das kleine Mädchen auf den Arm. "Ja mein Engel. Jungs sind doof, aber sie können auch ganz toll sein. Schau dir deine Brüder an.", lächelte die Frau und piekste ihre Tochter in den Bauch, worauf diese kicherte.

"Werde ich dann auch so hübsch aussehen wie du Mum?", grinste das Mädchen und ihre Mum nickte. "Noch viel viel schöner." Sie gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn und umarmte sie fest. "Ich hab dich lieb Avery" "Ich dich auch Mummy."

Genau in dem Moment hallte Gelächter durch die Flure und drei kleine Jungs rannten an der Tür vorbei. "Komm mit Avery!", lachte der kleine Jace und Avery kicherte. Ihre Mutter ließ sie hinunter und schon war das Mädchen auf und davon.

Ich lächelte leicht, während sich eine Sehnsucht nach meiner Kindheit in mir breit machte. Ich vermisste das sorgenfreie Leben. Ich vermisste meine Eltern. Ich vermisste meine kleine heile Welt.

"Ich überlege es mir." Schulterzuckend starrte ich aus dem Fenster und beobachtete die vorbeiziehenden Häuser, die immer mehr verschwammen und in einen Film bunter Farben übergingen. 

In den letzten zwei Tagen war viel passiert. Mace hatte es irgendwie geschafft mich zu überzeugen und ich hatte es wirklich getan. Ich bin tatsächlich bei den Jungs eingezogen.

Vorerst.

Ganz zur Überraschung von Devran und Ryan übrigens, denn diese beiden Hohlköpfe wohnten auch dort. Trotz einiger fassungsloser und überforderter Blicke, haben sie aber tatsächlich die Klappe gehalten. Vielleicht lag es an meiner tollen Persönlichkeit, vielleicht aber auch an der Tatsache, dass die kleine schwarze Villa Kyle, Jace und Tyler gehörte und sie dort nur untergemietet waren.

Lizzy hatte ein ungewöhnlich hohes Verständnis dafür, dass wir die letzten Tage nicht in der Schule waren. Deswegen durften wir auch noch ein paar Tage länger fehlen und einen Umzug durchführen.

Leider war damit jetzt Schluss, denn ich befand mich gerade auf dem Weg zur Schule. Und das schlimmste daran: ich fuhr nicht mal selber. Diese Idioten von Geschwistern haben es doch ernsthaft geschafft, mich davon zu überzeugen, nicht alleine zu fahren, sondern mit ihnen zusammen.

Ich wollte gar nicht wissen, was die anderen an unserer Schule gleich denken würden, wenn ich aus dem Auto der Jungs steige. Andererseits ging es mir auch schlichtweg am Arsch vorbei.

Mace hatte ich in den letzten Tagen kaum gesehen. Er war, genauso wie ich, mit seinem eigenen Kram beschäftigt.

Viel mehr war eigentlich nicht passiert. Abgesehen davon, dass in drei Wochen der Homecoming Ball war und Ally, sowie der Rest der Schule, deshalb durch die Decke ging. Ich hatte ursprünglich nicht vor hinzugehen, aber Mace hatte mich gefragt und ich konnte einfach nicht nein sagen.

Ally war wirklich Ok. Sie war das komplette Gegenteil von mir - lieb, freundlich, fröhlich und lebensfroh. Sie und Kyle passten wirklich gut zusammen und mittlerweile freute ich mich für ihn, sie gefunden zu haben. Ich verstand seinen Zwiespalt, ich verstand warum er und die anderen nicht mehr zurück gekommen sind, ich verstand warum sie hier viel glücklicher waren. Und trotzdem nagte noch immer ein kleines Monster an mir, wenn ich sah, wie glücklich Ally und Kyle zusammen waren. Einfach, weil ich es in den Jahren vor Maci und Mace nicht sein konnte und sie einer der Gründe dafür waren. Sie hatten gelacht, während ich geweint hatte. Sie waren glücklich und konnten schweben, während ich in der Trauer versank und sie mich auf den Grund des Meeres zog. Ihr Herz wuchs, während meines immer mehr zerbrach. Sie liebten immer mehr, während ich Stück für Stück damit aufhörte. 

Ich hatte längst verstanden, wie unfair das Leben war, doch es auch zu spüren, war als würde man ersticken. Das musste ich auf die schmerzhafte Art und Weise lernen. 

Meine kalte Maske fand den Weg in mein Gesicht, als wir den Parkplatz erreichten und ausstiegen. Viel zu viele Blicke richteten sich auf uns. Die vielen Augen verfolgten uns, starrten uns neugierig und verwirrt hinterher und brannten unangenehme Löcher in unsere Haut. Besonders ich wurde Opfer ihrer feurigen Blicke, denn ziemlich schnell trennte ich mich von der Gruppe ab und lief in die Gemäuer der Hölle vieler Jugendlicher. 

Ich lief in einen Teil meines neuen Lebens. 

Hold me - Heart of IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt