Mein Kopf dröhnte als ich schweißgebadet aufwachte. Draußen war es noch dunkel und ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass es erst kurz nach 4 Uhr war. Mit Schmerzen am ganzen Körper setzte ich mich langsam auf und griff nach der Vodka Flasche, die neben meinem Bett stand. Das Zeug war so unfassbar eklig, aber dennoch brauchte ich es einfach. Ich sah keine andere Möglichkeit das alles hier irgendwie zu ertragen.
Langsam stand ich auf und stolperte dabei über mehrere Gegenstände, die quer im Raum verteilt lagen. Ich konnte mich kaum noch an gestern Abend erinnern, nur noch daran, dass ich sämtliche Gegenstände durch die Gegend gefeuert hatte und so manches zu Bruch gegangen war. Wie der Spiegel, der in meinem Zimmer hing.
Meine Fingerknöchel waren blau und blutig, ich hatte mehrere blaue Flecke am Körper und meine Augen brannten so stark, dass es fast schon unerträglich war. Mein Sichtfeld war immer wieder verschwommen, als ich in mein Badezimmer lief und mir eiskaltes Wasser ins Gesicht klatschte.
"Happy 18. Birthday Avery", flüsterte ich mir selber zu und blickte dann nach oben in den Spiegel. Ich fühlte mich wieder genauso wie vor fünf Jahren, als alles begonnen hatte. Das da im Spiegel war nicht ich, es war irgendeine leere Hülle, die alles zerstörte, was ihren Weg kreuzte.
Meine roten, blutunterlaufenden Augen blickten mir mit Verrat entgegen und zum ersten Mal seit Jahren konnte ich mein Spiegelbild so wenig ertragen wie jetzt. Das Einzige was ich empfand war Hass, purer Hass gegenüber mir selbst. Ich war nicht mal wütend auf die Welt dort draußen. Nein, ich war lediglich wütend auf mich selbst, weil ich an allem Schuld war.
Ich war Schuld daran, dass die Jungs gegangen waren. Ich war Schuld, dass Mum und Dad jetzt tot waren. Ich war Schuld, dass Mace mich nicht mehr in seinem Leben wollte. Ich war einfach Schuld an allem.
Womöglich wären sie jetzt noch am Leben. Ja vielleicht würden sie jetzt alle fünf glücklich und friedlich im Bett dieses Hauses liegen. Womöglich wären sie ohne mich viel glücklicher gewesen.
Ich wandte den Blick von mir selbst ab und lief dann mit der Flasche in der Hand aus meinem Zimmer quer durch das Haus, bis ich an der Tür stehen blieb, die zuletzt vor Jahren geöffnet wurde.
Den Schlüssel holte ich aus eine Versteck hervor und öffnete dann mit einem tiefen Atemzug die Schlafzimmertür. Sobald die Tür ein Stück offen war, kam mir der bekannte Geruch entgegen, den ich so sehr vermisste. Sofort kehrten die Tränen in meine Augen zurück. Das Zimmer sah noch genauso aus wie damals. Noch immer war die selbe Bettwäsche darauf, Mums Bücher und Dads Unterlagen lagen auf den Nachtschränken daneben.
Ich tapste über den Boden. Das Einzige was sich hier drin verändert hat, war das fehlende Leben. Früher standen immer frische Blumen auf der Kommode neben dem großen Fenster und überall lagen Klamotten von Dad verteilt, worüber sich Mum immer so sehr aufgeregt hatte.
Vorsichtig öffnete ich die Tür zum angrenzenden Ankleidezimmer. Neben den vielen Klamotten lag ganz hinten auf einer kleinen Kommode eine Schmuckschachtel mit Mums Lieblingskette. Dad hatte sie ihr zum 10ten Hochzeitstag geschenkt und ich konnte gar nicht sagen, wie wichtig sie ihr immer gewesen war. Vorsichtig öffnete ich die Schatulle und sofort funkelten mir die kleinen Steinchen der Louis Vuitton Kette entgegen. Sie musste ein Vermögen gekostet haben, aber für Mum war die emotionale Bedeutung immer soviel wichtiger gewesen. Sie hatte die Kette immer getragen, egal wo oder wann. Sie war ihr Glücksbringer, ihr wichtigster Besitz.
Trauer überkam mich und ich schloss die kleine Samt-Box wieder. Stattdessen öffnete ich einen der Kleiderschränke. Mums Kleider hingen alle feinsäuberlich der Farbe nach geordnet in einer Reihe. Mit zittrigen Händen fuhr ich über die weißen Plastik- und Stoffhüllen und blieb an dem hellblauen Abendkleid hängen, dass sachte durch die Hülle schimmerte. Ich hatte es immer am liebsten an ihr gesehen. Es passte so unfassbar gut zu ihren dunklen Haaren und den strahlenden blauen Augen, die ich von ihr geerbt hatte. Ich hatte die ganzen kleinen Glitzersteinchen, die im Licht funkelten und die vielen Schmetterlinge und Blumen noch immer in meinen Erinnerungen. Wenn ich ganz genau daran dachte, konnte ich sie direkt vor mir sehen. Sie in diesem Kleid, mit ihrem wunderschönen Lachen und der Liebe in den Augen, die sie Dad geschenkt hatte.
Schweigend wollte ich den Schrank wieder schließen, als zwischen den ganzen Schutzhüllen eine dunkelblaue Box in mein Blickfeld trat, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Warum auch immer zog sie mich magisch an. Ich ging in die Hocke und strich vorsichtig mit meinen Fingern darüber. Es war eine ganz normale Kiste aus Pappe. Vorsichtig zog ich sie hervor.
Ich hob den Deckel und erstarrte, als ich den Inhalt sah. Die ganze Schachtel bestand aus Fotos und Gegenständen, die ich noch nie gesehen hatte. Ich nahm eines der Bilder und Tränen bildeten sich in meinen Augen, als ich fassungslos erkannte, was darauf zu sehen war. Es war ein Foto von Mum und Dad zusammen mit Jace, Kyle und Tyler zu seinem 14. Geburtstag bei Tante Lizzy. Das konnte ich an der großen 14 erkennen, die sich auf einer Torte in ihrem Wohnzimmer befand. Alle strahlten sie in die Kamera.
Über die Fassungslosigkeit legte sich eine unfassbare, fast schon beängstigende Wut. Ich hatte Stunden gewartet und hunderte Tränen vergossen, während ich erfolglos auf Mum und Dad gewartet hatte. Ich hatte damals Hoffnung. Hoffnung, dass sie doch noch kommen würden, aber letztendlich blieb es bei den ganzen Geschenken. Sie hatten mir gesagt, sie könnten aufgrund eines Sturmes nicht nach Hause zu mir kommen, weil ihr Flugzeug nicht fliegen konnte. Ich war so traurig gewesen, hatte soviel geweint. Ich konnte an einem Tag, an dem ich glücklich sein sollte nicht lachen. Ich konnte nur weinen und mit immer wenig werdender Hoffnung aus dem Fenster starren.
Sie hatten gelogen. Sie hatten mich einfach angelogen. Sie hatten mich im Stich gelassen, um bei denen zu sein, die mich am meisten verletzt hatten. Die mir meine ganze Freude und Liebe genommen hatten.
Wütend schmiss ich das Foto in die Box und schloss sie. Dann setzte ich diese verdammte Flasche an und trank. Aber nichts konnte den Schmerz lindern, der von Sekunde zu Sekunde stärker wurde und mich von innen auffraß.
Ich musste mich festhalten um aufzustehen, weil meine zu Beine wacklig waren, um mich zu tragen. Der Schock saß zu tief in meinen Knochen. Dann nahm ich die Kiste und lief mit brennenden Augen aus dem Zimmer. Die Tür knallte ich hinter mir zu. Ich stieg die Treppen nach oben und stellte sie neben meinem Bett auf den Boden.
In mir breitete sich ein Druckgefühl aus. Ich atmete tief ein und aus, setzte mich einfach auf den Boden und stellte die Flasche zwischen meine Knien. Dann starrte ich. Ich tat nichts außer die Box anzustarren und mich zu fragen warum sie das getan hatten.
Warum haben die Jungs mich verlassen? Warum haben Mum und Dad nie etwas gesagt? Warum haben sie mich die ganze Zeit angelogen? Warum war ich ihnen so egal? In meinem Kopf herrschte ein einziges Chaos. Tausend Gedanken schwirrten durch ihn. Tausend Fragen.
Und jede blieb ohne Antwort.
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Hold me - Heart of Ice
Teen Fiction(Deutsch) 》Trotzt dieser Leere, die mich in diesem Moment und seit Jahren beschrieb, konnte man die Spannung und die Gefühle in der Luft spüren. Sie hingen wie Blitze um uns und bildeten eine Gitter voller Schmerz, Hass und Erinnerungen. Ich war gef...