61. Kapitel

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Es war Nachmittag als die Tür hinter mir zu fiel. Ich hatte mehrere Stunden am Strand verbracht und auf das tobende Meer hinausgestarrt. Eigentlich hätte ich schon längst etwas essen sollen, aber ich hatte keinerlei Hunger. Die Erlebnisse der letzten Stunden saßen mir zu tief in den Knochen.

Deswegen legte ich mich auf mein Bett und starrte nach oben auf die schwarze Decke. Abgesehen von dem riesigen Wirbelsturm in mir, fühlte ich mich furchtbar leer. Die Minuten schienen wie Stunden zu vergehen, der Tag hatte kein Ende in Sicht. Ich hatte kein Ziel vor Augen, nur gähnende Leere.
Ich hatte keinen Schimmer, was ich nun tun sollte. Mace um Verzeihung zu bitten, hatte sowieso keinen Sinn, denn ich war mir sicher, ich würde ihn alsbald wieder verletzten. Es war besser für ihn. Er hatte jemand besseren verdient. Jemanden, der nicht so kaputt war und ihn nicht immer von sich stieß.

Im Hintergrund tickte die Uhr vor sich hin, draußen wurde es immer dunkler, während ich weiterhin regungslos an die Decke starrte. In meinem Kopf war das reinste Chaos und ich hatte keine Möglichkeit es zu ordnen, weil ich einfach keinen Anfang fand. Es war zu viel. Ein Band ohne Anfang und Ende. Ein Band mit tausend Knoten, die alles nur noch schwerer machten.

Ich drehte meinen Kopf zur Seite und sah die blaue Box, die seit heute früh noch immer unberührt auf dem Boden stand. Einige Minuten vergingen, in denen ich sie einfach nur anstarrte.

Die Stille kam mir gleichzeitig angenehm und unerträglich vor. Sie war klar, aber genauso schmerzhaft, weil jeder Gedanke in meinem Kopf so laut und deutlich war wie noch nie. Nichts übertönte sie. Nichts konnte etwas gegen sie machen.

Weitere Minuten vergingen, dann richtete ich mich langsam auf und griff nach der Flasche, die noch immer auf dem Boden vor der Box stand. Der Alkohol brannte in meinem Hals, doch war es auf eine gewisse Weise angenehm. Ich hoffte, er würde die Stimmen in meinem Kopf verblassen lassen, doch befürchtete ich er würde sie nur noch schlimmer machen.

Ich hob die schwere Box vom Boden auf und legte sie auf mein Bett. Dann hob ich den blauen Deckel und legte ihn daneben. Die Kiste war bis zum Rand gefüllt. Ganz oben drauf das Foto, dass mir auch beim jetzigen Anblick einen Schauer durch den Rücken jagte. Ich nahm es runter und legte es daneben auf meine Bettdecke. Dann griff ich nach dem nächsten Bild.

Es war ein Foto von Mum und den Jungs am Strand von LA. Sie sahen so glücklich aus, so friedlich. Wie eine ganz normale Familie. Und sie machten den Anschein als hätte es mich nie gegeben.

Ein anderes zeigte Kyle und Tyler wie sie sich gerade gegenseitig in Lizzys Pool schmissen. Sie schienen so viel Spaß zu haben. So viel Freude. Und sie schienen nie glücklicher gewesen zu sein.

Dann war da noch ein Bild von Kyle und Tyler beim Homecoming Ball. Das musste kurz vor Mum und Dad's Tod gewesen sein. Kyle hatte den Arm um ein Mädchen gelegt, dass verdächtig nach Ally aussah. Ich musste zugeben, dass ich ihre Beziehung eine wenig bewunderte. Nicht viele High School Lieben halten Jahre lang.

Ein paar weitere zeigten die Jungs beim Football spielen in der Schule. Es waren noch mehr Bilder da. Manche zu Weihnachten, wie sie ihre Geschenke auspackten, während ich alleine zu Hause saß und nur eines der Hausmädchen um mich herum hatte. Jedes Bild machte mich trauriger. Jedes Bild tat mehr wehr. Jedes machte das Loch in meiner Brust größer. Jedes brachte das Eis in mir mehr zum brechen. Jedes Bild war eine Scherbe mehr, die sich tief in mein Herz bohrte.

Ich konnte die Tränen kaum noch unterdrücken. Das Einzige was ich tun konnte, war mich mehr und mehr mit Alkohol zu benebeln, der aber kaum die Wirkung mit sich brachte, die ich gerade dringender denn je brauchte.

Andere Bilder waren aus Urlauben, von Tagen von denen Mum und Dad mir erzählt hatten sie müssten geschäftliches regeln. Andere von Feiern zu den Geburtstagen der Jungs, von Restaurantbesuchen, Bällen oder Gartenpartys bei Lizzy. Und auf keinem einzigen Bild machten sie den Anschein mich zu vermissen. Ganz im Gegenteil. Sie schienen nie glücklicher gewesen zu sein.

Neben hunderten weiteren Bildern waren noch Gegenstände sowie Geburtstags- und Weihnachtskarten in der Box. Schmuck, den ich Mum nie tragen sehen hatte, Medaillen von Spielen, Postkarten und allerlei anderes.

Ich brauchte eine Ewigkeit jedes einzelne Bild, jeden einzelnen Gegenstand anzusehen. Und es war die reinste Qual ihr Glück zu sehen. Ich hatte mich nie so belogen gefühlt wie jetzt gerade in diesem Moment. Jeder hatte mich angelogen. Mum, Dad, Lizzy, meine Großmutter, die sich eh nicht um mich kümmerte. Jeder. Und niemanden hatte es interessiert wie es mir ging. Dass ich mich umbringen wollte, dass ich mich selber verletzt hatte und schon so viele Male aufgeben wollte. Ich war ihnen einfach egal. Als würde es mich nicht geben.

Ich weiß nicht genau was ich gerade fühlte. Irgendwie eine Mischung aus Wut, Trauer, Schmerz, Enttäuschung und noch so viel mehr, für das ich nicht die richtigen Worte fand.

Ganz unten in der Box, unter den restlichen Bildern war ein weißer Umschlag. Übelkeit überkam mich als ich meinen Namen und den heutigen Tag darauf las. Mir wurde urplötzlich eiskalt, eine Gänsehaut nach der anderen überzog meine Haut. Schauer durchliefen meinen Körper. Einer unangenehmer als der andere.

Um mich herum begann sich alles zu drehen. Nichts als ein Rauschen drang durch meine Ohren. Meine Hände zitterten wie verrückt, als ich den weißen Umschlag aus der Box nahm und ihn schockiert anstarrte.

Für meine geliebte Avery zum 18ten Geburtstag

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