Mace P.O.V.
"Avery?" Die Wohnung erschien mir komisch leer, als ich die Eingangstür aufschloss und der Holzboden unter meinen Füßen knarkste. Nirgendwo waren Schuhe, die kreuz und quer im Flur rumlagen. Keine Klamotten hingen über den Stühlen oder lagen wild verteilt auf dem Boden. Sogar das Bettzeug auf dem Sofa war feinsäuberlich zusammengelegt.
Doch am auffälligsten war der weiße Zettel, der auf dem Wohnzimmertisch neben dem Haustürschlüssel zu sehen war.
Mit einem flauen Gefühl im Magen griff ich nach ihm. Ich hatte Angst davor ihn zu lesen, Angst davor was sich hinter den Buchstaben verbarg.
Lieber Mace,
Nach allem, was in den letzten Wochen passiert ist bin ich dir mehr als dankbar, dass du für mich da warst. Doch so mehr Zeit ich mit dir verbringe und desto öfter ich mit dir streite, umso mehr wird mir klar, dass ich nicht gut für dich bin. Während du immer für mich da warst, war ich es nie für dich. Du hast mich immer unterstützt, hast immer versucht mir zu helfen und mir immer verziehen, obwohl du mich eigentlich hättest hassen sollen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr wird mir klar, dass du jemand Besseren als mich verdient hast. Ich kann nicht mehr in Kauf nehmen, dass ich dich immer mehr verletzte und immer weiter mit mir reiße. Das hast du nicht verdient. Deshalb bin ich zu dem Entschluss gekommen zu Lissy zurückzugehen. Ich kann nicht ewig so weitermachen wie jetzt. Du bist meine Familie Mace und ich will dich nicht auch noch verlieren. Ich habe das Gefühl, desto länger wir zusammen sind, desto mehr streiten wir und desto öfter tue ich dir weh. Vielleicht wird es so besser, vielleicht hilft dieser Abstand uns. Vielleicht kann ich irgenwann so für dich da sein wie du es auch für mich bist. So wie du es auch verdient hast.
Es tut mir leid, aber ich muss diesen Schritt gehen. Ich brauche Abstand, damit ich wieder denken kann. Ich hoffe du kannst das irgendwann verstehen.Avery
Verzweifelt vergrub ich mein Gesicht in den Händen. Dieses Mädchen trieb mich noch in den Wahnsinn. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob das nicht schon längst passiert war.
Wie oft hatte sie mich verletzt? Wie oft war ich wütend auf sie, weil sie mich von sich stieß - weil ich dachte, dass sie mir nicht vertraute. Weil ich dachte, sie wollte mich nicht mehr in ihrem Leben haben.
Was sie mir da vorhin halb zugeschrien hatte, hatte mir irgendwie die Augen geöffnet. Die letzten Wochen aus einer ganz anderen Perspektive zu sehen, änderte so vieles. Aber ganz ehrlich, woher hätte ich denn wissen sollen, dass sie nicht mal mit mir darüber reden konnte, dass es ihr so schlecht ging. Ich war immer davon ausgegangen, dass sie es nicht wollte, dass sie selber ihre Probleme lösen wollte und deshalb jegliche Hilfe ablehnte.
Natürlich hatte ich es geahnt. Wer würde das nicht. Jede Nacht ihre Schreie zu hören, wenn sie aus einem weiteren Albtraum aufwachte. Die schweren Atemzüge aus dem Bad, wenn sie eine Panikattacke hatte und hoffte ich würde es nicht mitbekommen. Die tiefen, dunklen Schatten unter ihren Augen, die sie vor mir zu verstecken versuchte.
Ich hatte Angst um sie, Angst davor die letzte Person zu verlieren, die mir geblieben ist. Der einzige lebende Mensch, der mir etwas bedeutete, den ich liebte.
Ich hatte nie herausgefunden, was Ave an ihrem Geburtstag machte. Sie wollte ihn immer allein verbringen. Selbst als Maci noch lebte, wollte sie nie ihren Schmerz mit uns teilen.
Ich wusste nichteinmal warum sie diesen Tag so fürchtete. Sie hatte uns nie verraten, was es damit auf sich hatte. Wir wussten so vieles, aber dennoch nicht alles. Und das war es was mir noch mehr Angst machte. Alles was sie uns erzählt hatte, hatte mich gebrochen. Es hat so sehr weh getan, dass ich nicht wusste wie ich das andere ertragen sollte.
Und ich wusste es gab mehr. Ich hatte die Narben auf ihrem Arm gesehen, die Tattoos, die mehr waren als ein bisschen Tinte. Ihre zitternden Hände, wenn sie in Gedanken versunken war. Ihre leeren Blicke wenn sie durch die Gegend starrte.
Ich hatte Angst, dass sie es irgendwann nicht mehr schaffte, dass sie diese Last nicht mehr tragen konnte, dass sie nicht mehr die Kraft hatte aufzustehen, dass sie völlig zusammenbrechen würde. Ich hatte Angst, dass ich sie verlieren würde und dann alleine war. Denn dann würde es nur noch mich geben, wen hatte ich sonst noch?
Bevor ich Ave kannte, hatte ich nur Maci. Sie war alles was ich hatte, die wichtigste und einzige Person in meinem Leben. Wir hatten soviel durchgemacht. Den Verlust unserer Eltern, das Leben im Heim, das gemeinsame Abrutschen in die gefährlichsten Stellen Kaliforniens, nur um Geld zu verdienen. Nur um uns später irgendwie eine Wohnung leisten zu können und nicht auf der Straße zu landen.
Ich hatte sie beschützt, als ihr Freund sie geschlagen und bedroht hatte, als sie nicht mehr weiter wusste und völlig am Boden war. Wir waren immer füreinander dagewesen, egal was für Scheiße wir gebaut hatten. Sie war meine Familie, meine Schwester, mein Zwilling, meine bessere Hälfte. Alles was ich hatte.
Ihre Diagnose hatte mir dem Boden unter den Füßen weggezogen. Ich konnte doch nicht auch noch die letzte Person verlieren, die mir geblieben war. Nicht sie, nicht den Rest meiner Familie, nicht meine Schwester - meine beste Freundin, meine Seelenverwandte.
Wir wussten nicht, wie wir das alles bezahlen sollten. Die Therapie, die ganzen Medikamente. Ave war wie ein Engel. Sie hatte uns soviel geholfen, sie hatte uns bei sich wohnen lassen, hatte diese gesamte Reise bezahlt und die ganze Behandlung von Maci.
Sie hätte es niemals tun müssen, wir hatten sie nie darum gebeten, sie hatte es einfach getan. Ich war ihr unfassbar dankbar dafür, denn so gab sie mir Zeit. Zeit mit Maci, die ich vielleicht nie hätte haben können.
Soviel wäre anders gewesen, wenn wir an diesem Abend nicht durch die kühle Nacht gelaufen wären. Wenn Maci nicht genau an diesem Tag die Diagnose bekommen hätte, wären wir niemals an dem Fluss mit der Brücke, inmitten eines Waldes vorbei gekommen. Wir hätten Ave nie hinter dem Geländer gesehen. Wer weiß, vielleicht wäre sie nun tot gewesen.
Ich weiß nicht, ob sie wirklich gesprungen wäre, aber sie wirkte so unfassbar zerbrechlich, so kaputt, traurig und aufgelöst, wie ich noch niemanden zuvor gesehen hatte. Nie hatte ich jemanden mit so leeren Augen gesehen, mit so einer traurigen Ausstrahlung wie sie sie hatte.
Sie hatte sich noch nicht einmal gewehrt, als wir sie zurück gezogen hatten. Nein, stattdessen brach sie einfach zusammen und saß zusammengekauert mit dem Kopf in den Armen auf dem gammligen Holz der Brücke, weinte und schluchzte hemmungslos. Sie hatte am ganzen Körper gezittert und ich war mir sicher, dass dies nicht nur von dem eiskalten Regen kam, der in Strömen vom Himmel fiel.
Ich fragte mich was wohl passiert sein musste, dass es jemanden so schlecht ging, dass man sein Leben beenden wollte und keinen anderen Ausweg mehr fand. Und ja, wie das Schicksal es wollte, sollte ich es erfahren. Ich sollte ein Mädchen finden, das mir ähnlicher war als ich dachte, das erlebt hatte was ich erlebt hatte. Das für mich da sein würde und mir helfen würde.
Ich sollte meinen Engel finden.
Vielleicht hatte Maci den Kampf gegen den Krebs nicht gewonnen, aber sie hatte es versucht und sie hatte bis zum letzten Moment gekämpft. Sie hatte bis zur letzten Sekunde gelebt und die Zeit genutzt. Sie war so unglaublich stark, stärker als ich es je hätte sein können.
Wäre Ave nicht gewesen, hätte ich nicht gewusst wie ich mit meiner Trauer hätte umgehen sollen, wie ich den Schmerz hätte verarbeiten sollen. Sie hatte mir geholfen und nun war es meine Aufgabe ihr zu helfen.
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Hold me - Heart of Ice
Teen Fiction(Deutsch) 》Trotzt dieser Leere, die mich in diesem Moment und seit Jahren beschrieb, konnte man die Spannung und die Gefühle in der Luft spüren. Sie hingen wie Blitze um uns und bildeten eine Gitter voller Schmerz, Hass und Erinnerungen. Ich war gef...