62. Kapitel

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Meine Hände zitterten so stark, dass ich mehrere Anläufe brauchte den Brief zu öffnen. Wie in Trance starrte ich auf die schwarze Tinte und die Handschrift meiner Mutter, die verschnörkelt meinen Namen schrieb. 

Liebste Avery, 

solltest du diesen Brief jemals lesen, tut es mir unendlich leid, dass wir dich verlassen mussten und du diesen besonderen Tag ohne uns verbringen musst. 
Ich weiß nicht wann du diesen Brief gefunden hast, doch sollte es am heutige Tag gewesen sein, dann ist das der Beweis dafür, dass es das Schicksal gibt. 
Avery Hillary Destiny Collin. 
Ich habe dir diesen besonderen Namen nicht umsonst gegeben. Dein Vater wollte dich Allison nennen, aber seit ich dich das erste Mal in meinen Armen hielt, wusste ich, dass du besonders warst. Und jemand besonderes verdient einen Namen, den kaum ein anderer trägt. 
Seit deiner Geburt warst du eine Kämpferin. Du warst anmutig und so wunderschön, dass ich dich nur Avery nennen konnte. Dein Name steht für Anmut, Stärke, Klugheit und so viel mehr was die Königin der Elfen ausmacht. 
Hillary habe ich gewählt, weil er für Fröhlichkeit steht. Zwischen all den Jungs warst du unser Sonnenschein. Du hast so hell gestrahlt. Heller als die Sonne. Jeder der dich sah, musste dich einfach lieben. Dein Lachen war schon immer ansteckend gewesen. In deiner Nähe gab es keine schlechte Laune. 
Dass mich das Schicksal schon einige Male überrascht hat, muss ich dir nicht sagen. Das beste Beispiel ist wohl, als ich deinen Vater kennenlernte, indem er mir seinen Kaffee über das T-Shirt geschüttet hatte, nachdem ich, weil ich mein College-Unterlagen zu Hause vergessen hatte, später als sonst durch die Oxford Tür lief. 
Ich hatte mir immer ein Mädchen gewünscht und auch wenn ich meine Jungs über alles liebe, hatte immer etwas in unserer Familie gefehlt und das warst du. Ich schätze es war Schicksal, nach drei Jungs endlich ein Mädchen zu bekommen, denn du hast unsere Familie vollständig gemacht. Ohne dich hätte immer etwas gefehlt. Deswegen der Name Destiny. Es war wohl Schicksal, dass mein letztes Kind das Mädchen war, das ich mir immer gewünscht hatte. 
Und auch wenn es mir unfassbar leid tut, dass du diesen Tag ohne uns verbringen musst, dann kann ich mir dennoch vorstellen, dass es auch dieses Mal Schicksal war, dass wir von dir gehen mussten. Denn wer weiß, ob dir dann all die Sachen passiert wären, die dir vielleicht passiert sind. Und ich hoffe zutiefst, dass diese schön waren. Denn das ist es was du verdienst. Nur das Beste dieser Welt.
Es tut mir so leid, dass wir in den letzten Monaten so selten für dich da waren, aber du musst wissen, dass die Entscheidung deiner Brüder, zu gehen nicht einfach für uns war. Da du diesen Brief gefunden hast, gehe ich davon aus, dass du mittlerweile all die Bilder und Gegenstände gesehen hast und du dich nun fragst, warum wir dich die ganze Zeit angelogen haben.
Ich muss gestehen, dass all sie Lügen mit viel Schmerz und Gewissenbissen verbunden waren. Es tut mir so unfassbar leid. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwer es für dich war und vielleicht gerade auch noch ist. Doch ich durfte dir nichts sagen, das musste ich den Jungs versprechen.
Neben all den geschäftlichen Sachen, war es schwierig nun auch noch meine Kinder, verteilt an zwei Standorten, unter einen Hut zu bekommen. Und auch wenn es mir unfassbar leid tut und ich alles getan habe was mir möglich war, konnte ich nun mal nicht an zwei Orten zur gleichen Zeit sein. Ich habe mich stets bemüht, sowohl dir als auch den Jungs gleich viel Zeit zu schenken, nicht zuletzt weil ihr mir soviel bedeutet, doch habe ich es nicht geschafft.
Ich weiß wie sehr du darunter leidest und es bricht mir jedes Mal aufs neue das Herz, dich so zu sehen. Und auch wenn es das schlimmste ist, was eine Mutter ihren Kindern antun kann, muss ich dir dennoch aus Ehrlichkeit beichten, dass es mir an manchen Tagen leichter fiel bei den Jungs zu sein, statt bei dir.
Du darfst mir so viele Vorwürfe machen wie du möchtest. Mich die schlechteste Mum auf der Welt nennen, aber du musst mich auch verstehen. Dich so zu sehen... So traurig und verletzt. Ich ertrage es nicht jedes Mal aufs neue die Tränen in deinen Augen zu sehen. Der Schmerz, diese Leere, der letzte Rest Hoffnung. Deine Schreie in der Nacht zu hören, deine Narben - auch wenn du sie zu verstecken versucht hast -, die tiefen Ringe unter deinen Augen. Die fehlende Freude in deinem Leben.
Du warst immer mein Sonnenschein, doch dein Licht war von einem Tag auf den anderen einfach erloschen. Und das Wissen, dass ich ein Teil der Schuld trug war für mich unerträglich. Manchmal fiel es mir einfach leichter wegzusehen... Und das tut mir so unfassbar leid.
Ich weiß du bist sauer auf die Jungs. Dass sie dich verlassen haben. Einfach gegangen sind ohne sich zu verabschieden, ohne einen für dich erkennbaren Grund, ohne sich jemals wieder zu melden. Nun ja, es klingt ironisch, aber ich befürchte fast sie haben es für dich getan. Ich glaube, dass sie dir damit nur etwas Gutes tun wollten.
An deinem zwölften Geburtstag haben sie mitbekommen wie traurig du warst, dass wir nicht da sein konnten. Und sie haben die ganzen anderen Male mitbekommen, wenn dein Lächeln bröckelte, als wir aufgrund unseres Unternehmens kurzfristig absagen mussten. Sie dachten, wenn sie für eine Zeit lang gehen würden, würden wir einsehen, dass wir endlich weniger arbeiten und mehr bei euch sein sollten. Ich fürchte sie hätten nie ahnen können, was sie eigentlich damit anrichten würden.
Ich habe ihnen nie erzählt, wie es dir ging, denn einerseits, konnte ich es kaum aussprechen, weil es nur so noch realer wurde und andererseits, weil ich nicht wollte, dass sie es wussten. Ich erzählte ihnen, dass es dir wunderbar geht. Dass du sie vermisst, aber akzeptierst, dass sie etwas neues erleben wollten, weil du uns nun regelmäßig siehst. Denn das war es was ich erzählte, als sie mich fragten, was wir dir gesagt haben. Ich log sie an und meinte ich hätte dir gesagt, dass sie etwas neues sehen, neue Freunde kennenlernen und etwas erleben wollten. Und sie glaubten mir.
Der Einzige, der nie ganz klar kam war Jace. Ich merke, dass auch er sein Leuchten, sein Strahlen verloren hat. Das er dich vermisst. Mehr als alles andere. Ich merke wenn er Abends aus dem Fenster starrt oder alte Bilder ansieht. Wie er tausende Nachrichten an dich schreibt, sie aber immer wieder löscht. Wie er Briefe schreibt, sie aber nie abschickt. Postkarten, die er selbst behält. Es tut mir in der Seele weh euch beide getrennt zu sehen. Zwillinge gehören nun mal zusammen. Eure Bindung war schon immer besonders. Und ich weiß, dass ihr zusammen leidet und den gleichen Schmerz teilt. Ich kann nur hoffen, dass ihr irgendwann wieder zueinander finden werdet.
Das einzig positive an der ganzen Sache ist nur, dass du nicht mehr diese rosarote Brille trägst. Denn die wäre dir früher oder später zum Verhängnis geworden. Die Jungs hätten dich nicht ewig beschützen können. Du bist von deinen falschen Freunden weggekommen, die es nur auf deine Brüder abgesehen haben und hast gelernt, dass nicht alles so schön ist wie es aussieht und immer scheint. Die Welt ist leider viel zu kaputt, manche Menschen viel zu Böse und manche Dinge zu unberechenbar für ein liebevolles Mädchen, das stets die Sonnenseite des Lebens sieht und nichts als Liebe kennt. Sie hätte dich früher oder später überrollt und du hättest nichts dagegen tun können. Es wäre dein Untergang gewesen.
Es tut mir leid, dass wir dich so schmerzvoll aus deiner heilen Welt gerissen haben Avery. Doch ich kenne dich und ich weiß wie stark du sein kannst. Und ich weiß was für eine tolle Frau du sein wirst, wenn du diesen Brief lesen wirst. Stark, wunderschön, klug, selbstbewusst und so viel mehr. Du verdienst die Welt Avery, aber nicht alles auf dieser Welt verdient auch dich. Das musst du immer in Erinnerung haben.
Denk immer daran wer du bist und wer du sein willst. Denn du kannst alles sein, du musst es nur wollen und dafür kämpfen.
Ich weiß du vermisst uns und wir vermissen dich, doch musst du immer daran denken, dass wir immer bei dir sind. Wir begleiten dich auf jedem Schritt deines Lebens auch wenn du uns nicht siehst. Du bist nicht alleine und wirst es auch niemals sein. Egal ob du in den Höhen oder Tiefen deines Lebens schwebst. Egal ob dir alle Wege offen stehen oder jede Möglichkeit aussichtsloser denn je scheint. Wir sind bei dir. Wir unterstützen dich und geben dir die Kraft, die du brauchst. 
Du weißt was ich dir immer gesagt habe. Wir sind der hellste Stern am Himmel. Egal ob du ihn siehst oder nicht. Er ist da und das bedeutet, dass auch wir da sind. Egal was kommt. Egal was sein wird.
Vergiss das nie.

In Liebe
Mum & Dad 




Hold me - Heart of IceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt