Der erfundene Freund

Kapitel 28: Vorurteile

Eine Weile starre ich Owen nach unddenke über das Gespräch nach. Es ist ihm sicher nicht leichtgefallen, sich mir gegenüber zu outen. Aber ich finde es gut, dasser so offen und ehrlich zu mir ist. Denn das bedeutet, dass ich ihmals Mensch wichtig bin und ihm auch viel an einer Freundschaftgelegen ist.

Ich stehe auf, greife nach meinemRucksack und gehe die zwei Stufen hinunter. Von der Seite springtgenau in dem Moment ein Student über die Stufen und reißt michdabei fast um. „Oh, verdammt...!", rutscht mir heraus.

„Scheiße, sorry!", entschuldigtsich der Student. Er greift kurz nach mir, aber ich trete bereitseinen Schritt zurück. „Alles okay bei dir?" Er hat kurzes Haarund breite Schultern. Aber das ist auch schon die einzige Ähnlichkeitzu Ethan. Er trägt ein Trikot von der Football-Mannschaft derUniversität und ich wette, er hat ein Sportstipendium bekommen.

„Alles gut. Es ist nichts passiert."Ich lächle ihm kurz zu und wende mich ab. Dabei schiebe ich denRucksack zurecht, der mir halb von der Schulter gerutscht ist.Schrecklich, dass ich schon anfange jeden halbwegs gutaussehendenjungen Mann mit Ethan zu vergleichen.

„Hey, warte kurz. Du studierstWirtschaft, stimmt's?"

„Ja, richtig." Natürlichkorrigiere ich ihn nicht, was meine Studienrichtung angeht. Ist ehnicht wichtig. Ich gehe in Richtung U-Bahn, allerdings folgt mir derStudent und er quatscht mich von der Seite an: „Ich habe dich malgesehen. Vor ein paar Wochen. Du hast in der Mensa zu Mittaggegessen."

„Ja, kann sein", gebe ich zurück.Ohne näher darauf einzugehen, gehe ich weiter.

„Bekomme ich deine Nummer?"

„Was?" Ich bleibe abrupt stehen undstarre den Typen vor mir irritiert an.

„Naja, du scheinst es eilig zu habenund ich dachte, dann frage ich dich einfach über WhatsApp, ob wirzusammen mal ein Eis essen gehen. Wir können auch irgendwas andereszusammen unternehmen", schlägt er vor.

„Ich..." Mir bleibt einen Momentdie Luft weg und ich frage mich sofort, ob Charlotte etwas damit zutun hat. Erst der Künstler, dann der Fotograf und nun dieserSportstudent?! Dabei weiß Charlotte doch von Ethan! „SchicktCharlotte dich?"

„Wer ist Charlotte?"

Ich verdrehe kurz die Augen. „Istauch egal... Ich habe einen Freund. Also danke... Kein Interesse!"

„Wow, kein Grund gleich so unhöflichzu sein..." Der Student schüttelt kurz den Kopf und wendet sichab.

Betreten bleibe ich stehen und sehe ihmeinen Moment hinterher. Ich fühle mich unglaublich beschissen undfrage mich, wieso Charlotte sowas nur getan hat. Es verletzt michzutiefst und obwohl ich eigentlich keine Heulsuse bin, kommen mir dieTränen.

Zudem muss ich einfach in dieBibliothek. Also krame ich mein Handy raus, um Mr. Hunter anzurufenund ihm zu sagen, dass ich später komme.

Zum Glück nimmt er sofort das Gesprächentgegen. „Hunter."

„Hallo Mr. Hunter. Juliana hier.Ich..." Es schnürt mir plötzlich die Kehle zu und ich halte mitMühe und Not einen Schluchzer zurück. Was, wenn Charlotte heuteAbend vorbeikommt? Wie soll ich mich ihr gegenüber jetzt verhalten?„Eh... Ich komme später, wenn das okay ist."

„Es ist das erste Mal in vier Jahren,dass du nicht kommen kannst, Juliana. Das ist in Ordnung. Ruh dichaus. Und lern für die Prüfungen."

„Aber-", gebe ich irritiert zurück.

„Nein, kein Aber. Es ist okay. Morgenfrüh, die vier Stunden schaffst du?"

„Sicher. Aber... Ich kann auch-"

„Dann bis morgen." Mr- Hunterbeendet das Gespräch und ich starre auf das schwarze Display. Hat ermir gerade einen freien Nachmittag zum Lernen gegeben?

Ich denke erst mal nicht weiter nach,sondern gehe zurück zur Bibliothek und hole mir die beiden Bücher.Danach fahre ich direkt nach Hause, um die freie Zeit zu nutzen. Ichesse eine Kleinigkeit, mache mir passende Musik an und stürze michdirekt in die Bücher.

Erst, als mir die Hand vom Schreibenschon wehtut, mache ich eine Pause und schaue auf die Uhr. Es istschon später Nachmittag, als mir das Date mit Ethan einfällt undich springe fluchend auf. Überhastetet greife ich zum Smartphone undverlasse meine Wohnung.

Beinahe im Laufschritt eile ich zurU-Bahn und schaue immer wieder auf die Uhr. Natürlich verpasse ichnoch eine Bahn und ich kann mich vor lauter Aufregung gar nichtsetzen.

Wie konnte ich nur das Date mit Ethanvergessen?!

Eine gute Viertelstunde vorLadenschluss bin ich da und stelle mich etwas versteckt in die Nähevom Drogeriemarkt hin. Immerhin bin ich ja eigentlich krank. Wiegebannt schaue ich auf die Tür und warte auf Ethan. Er müssteeigentlich jeden Moment aus der Tür kommen. Als der Laden von innenabgeschlossen wird, passiert aber immer noch nichts.

Die ersten Mitarbeiter an der Kasseverlassen nach einigen Minuten den Laden. Und weitere zehn Minutenspäter kommt Mr. Hunter heraus. Allein. Er schließt den Laden ab undgeht. Kurz bin ich versucht, ihm hinterherzurufen. Aber ich kannihn auch morgen noch wegen Ethan fragen.

Über eine halbe Stunde bleibe ich inder Nähe der Filiale und hoffe, Ethan doch noch zu sehen. Ich gehesogar in die Fußgängerzone zu dem Mexikaner, wo wir Tacos gekaufthaben. „Scheiße."

Frustriert lasse ich mich auf die Bankgleiten, auf der Ethan und ich Anfang der Woche die Tacos gegessenhaben. Hätte ich ihm nur meine Handynummer gegeben... Jetzt muss esso aussehen, als hätte ich ihn versetzt.