Ich schaue fragend zu Mr. Hunter, der immer noch am Schreibtisch sitzt. Er hat doch schon den Kuchen organisiert. Was kommt denn jetzt noch? „Sicher." Der Pappteller von mir landet im Müll. Danach nehme ich den Kuchen und bringe ihn rüber in den Pausenraum, während ich mich frage, was denn jetzt noch kommt. Der Kuchen war schon mehr, als ich je erwartet habe.
Im Pausenraum angekommen, stelle ich den Kuchen vorsichtig auf den großen Tisch. Dann schneide ich weitere Stücke für die Kollegen herunter, damit sie in ihrer Pause davon essen können. Nachdem ich fertig bin, räume ich meinen Spind leer und lasse den Schlüssel stecken. Ein komisches Gefühl, nach vier Jahren zu gehen.
Als ich mich wieder umdrehe, kommt Mr. Hunter mit Janine in den Pausenraum. Dabei hält er einen Fotorahmen in der Hand, den er mir überreicht. Ich nehme das Bild entgegen. Es ist ein doppelter Rahmen. Oben sind alle Mitarbeiter dieser Filiale. Und unten drunter ist das Bild mit der Torte und mir, das Mr. Hunter vorhin gemacht hat. Deswegen saß er an seinem PC, während ich das Stück Kuchen gegessen habe.
„Ein wirklich schönes Andenken. Vielen Dank, Mr. Hunter", lächle ich ihn glücklich an.
„Viel Spaß und viel Erfolg in deinem neuen Job, Juliana." Zu meiner Überraschung umarmt er mich sogar kurz, obwohl er sonst immer sehr distanziert war. Danach wendet er sich Janine zu. „Ich lasse euch einen Moment allein."
Janine, eine Mitarbeiterin an der Kasse, lächelt mich glücklich an. Wir hatten am selben Tag angefangen hier zu arbeiten, aber weil mir die Zeit fehlte, ist nie eine richtige Freundschaft draus geworden, obwohl sie nur vier Jahre älter ist. „Glückwunsch zum Abschluss, July."
Auch sie umarmt mich kurz. Da Mr. Hunter schon weg ist, biete ich Janine ein Stück Kuchen an, was sie dankbar annimmt. „Mr. Hunter wollte ja ein Abendessen spendieren ,als Abschied. Der Alte mag dich."
„Ja, das glaube ich mittlerweile auch. Allerdings habe ich das nie gemerkt", gebe ich offen zu.
Wir lachen kurz und ich schaue mir das Foto genauer an. Natürlich ist Ethan nicht auf dem Bild, was mich betrübt. „Wann habt ihr das Foto gemacht?"
„Oh, ich weiß nicht mehr genau. Aber es war ein Freitag. Mr. Hunter hatte dir freigegeben, wenn ich mich recht entsinne."
Ich nicke nachdenklich. „Ursprünglich wollte ich später kommen, damit ich noch in die Bücherei kann. Deswegen hat er gesagt, ich brauche nicht zu kommen. Damit er das Foto machen kann." Obwohl die Geste wirklich süß ist, kann ich nicht lächeln und mein Herz sticht wieder, wenn ich an Ethan denke. Wollte Mr. Hunter nicht, dass Ethan auf dem Bild ist? Oder war Ethan gar nicht da? Immerhin war an dem Samstag das Lager ja komplett unangetastet.
„Der Kuchen ist unglaublich lecker!", schwärmt Janine.
„Ja, ist er. Nimm dir ruhig noch ein Stück, wenn du magst."
„Nur, wenn am Ende etwas übrigbleibt. Mr. Hunter gibt uns allen ein paar Minuten, um Kuchen zu essen und mit dir zu reden." Sie zwinkert mir dabei kurz zu.
„Der unnahbare, alte Mann", scherze ich ausgelassen. Denn ich muss wohl wirklich einen Stein bei ihm im Brett haben, wenn er das alles hier organisiert. Abschiede waren bisher nämlich immer kurz und schmerzlos gewesen.
Wir lachen und unterhalten uns noch ein wenig. Dann muss Janine aber wieder an die Arbeit und kurz daraufkommt ein anderer Kollege herein.
Über eine Stunde bin ich im Pausenraum, biete Kuchen an und unterhalte mich ein wenig mit den Kollegen. Eine wirklich schöne Art, mich zu verabschieden. So viel persönlicher als ein gemeinsames Abendessen, bei dem sich Grüppchen gebildet hätten. So kann mir jeder seine Wünsche in einem kurzen Gespräch überbringen. Der Kuchen kommt auf diese Weise auch weg. Aber ich habe ja zum Glück den Bilderrahmen mit den Fotos als wirklich schöne Erinnerung.
Bevor ich gehe, schaue ich noch kurz bei Mr. Hunter ins Büro, der allerdings gerade telefoniert. Also winke ich ihm knapp zu und er erwidert die Geste. Ich fahre nach Hause und bekomme eine Nachricht von Charlotte, die mir eine Adresse schickt und meint, ich sollte mit meinem Freund dort vorbeischauen.
Ich hadere kurz, was ich antworten soll. Eigentlich hätte ich wirklich Lust, meinen Abschluss zu feiern. Gute Musik, tanzen und ein wenig Alkohol. Daher antworte ich auf die Nachricht wie die letzten Tage: Mit einer Lüge. >Vielleichtkommen wir später nach. Aber ich denke, Ethan und ich werden unsere ganz eigene Party feiern.<
>Wer braucht schon laute Musik, wennman stattdessen hemmungslos vögeln kann.<
>Ja, eben. Und Ethan ist echt gut imBett.<
Seufzend stecke ich das Handy weg und schlucke schwer. Eigentlich sollte ich einfach zu einer anderen Partygehen, mich mit Alkohol betäuben und mir irgendeinen fremden Kerl anlachen. Vielleicht höre ich ja auf, an Ethan zu denken, wenn ich mich einfach auf einen anderen Mann einlasse. Ich könnte einen weiteren ONS haben und mir Ethan aus dem Kopf vögeln lassen.
In meiner Wohnung angekommen, stelle ich den Bilderrahmen auf eine Fensterbank im Wohnzimmer. Anschließend gehe ich duschen und ziehe aufreizende Dessous an. Dazu noch ein knappes Kleid, das regelrecht danach schreit, aufgerissen zu werden. Ich greife nach der Packung mit den Kondomen und stopfe sie in meine Handtasche. Kurz darauf verlasse ich das Hochhaus und gehe zur U-Bahn.
Allerdings bleibe ich oben einen Moment stehen und frage mich, was ich hier nur mache. Während meiner Studienzeit war ich kaum feiern. Warum soll ich es also jetzt tun? Ich werde Ethan nicht vergessen, wenn ein anderer Schwanz in mir steckt.
Also hole ich mein Handy raus und rufe Owen an, der zum Glück an sein Handy geht. „Ja, hallo?"
„Hey Owen, ich bin's, Juliana. Störe ich gerade?"
„Nö. Was gibt's denn?"
„Du musst mich davor bewahren, einen doofen Fehler zu machen."
„Ohje. Was ist denn los? Ist etwas passiert?"
„Nein, noch nicht. Aber ich will feiern gehen. Dabei weiß ich, dass es eine scheiß Idee ist."
„Dann komm zu mir. Wir quatschen ein wenig und gucken einen Anime", schlägt er vor.
Ich atme tief durch und seufze erleichtert. „Okay. Schickst du mir deine Adresse?"
„Klar. Hast du schon gegessen? Ich habe leider nichts hier, aber wir können was bestellen."
„Bestellen klingt super. Danke, Owen!"
Wenig später bekomme ich seine Adresse und fahre mit U-Bahn und Bus in das Studentenwohnheim. Natürlich ist sein Daddy kein reicher Modedesigner und Owen hat nur eine kleine Wohnung. Wir bestellen asiatisch, gucken Avatar, die Animeserie und ich darf sogar auf der Couch übernachten. Dadurch beschert er mir sogar ein Alibi, weil ich zu Charlotte sagte, ich wäre bei meinem Freund.
Ich sollte ihr bald die Wahrheit sagen, dass ich ihn nur erfunden habe und bis auf einen ONS nichts gelaufen ist. Aber dann wird sie wieder versuchen, mich zu verkuppeln... Ein Teufelskreis.
Daher werde ich die Lüge wohl erst einmal aufrechterhalten.
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Der erfundene Freund
RomantikIch stehe kurz vor meinem Abschluss an der Uni, jobbe nebenbei und habe einfach keine Zeit für einen Freund. Trotzdem versucht meine beste Freundin mich immer wieder zu verkuppeln. Und dann ist da noch der neue Lagerarbeiter, der mir den Kopf verdre...