Kapitel 2: Ethans erster Tag

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Ethan und ich gehen durch den breiten Flur zum Lager und ich deute auf die drei Paletten, die noch voll bepackt und mit Folie umwickelt sind. Dabei frage ich: „Kannst du mit einer Ameise umgehen?"

Ethan grinst ziemlich breit und steckt lässig die Hände in die Taschen. „Habt ihr hier etwa ein Problem mit Ungeziefer? Soll ich die Ameisen dressieren und zurück zu ihrem Bau schicken?"

Mir klappt die Kinnlade runter und ich bin mir nicht sicher, ob er gescherzt hat. Nun, natürlich hat er gescherzt... Aber warum? Daher deute ich wortlos auf die Ameise, die in einer Ecke des Lagers steht.

„Ah, verstehe. Ich kannte es bisher nur als Hubwagen, oder schlicht Hubi genannt. Und ja, es ist zwar schon ewig her, aber ich kenne die Dinger." Ethans Grinsen wird noch breiter.

„Okay, dann zieh die Paletten erst mal auseinander und wir gehen den Lieferschein zusammen durch." Ich gehe zum Rollcontainer und hole den Lieferschein und ein Teppichmesser, das ich mir in die Tasche stecke. Im Container finde ich ein Klemmbrett und Kugelschreiber.

Die nächsten Stunden verbringen wir damit, die Kartons von den Paletten zu holen und ich prüfe den Lieferschein nach. Bisher habe ich diese Arbeit fast immer alleine gemacht und bin wirklich dankbar um die Unterstützung.

Besonders die schweren Kartons mit Reinigungsmitteln hasse ich. Ethan nimmt mir fast jeden Karton ab und wir sortieren grob vor. Am Ende landen die leeren Paletten draußen im Hof und die Folie in einem Müllsack.

Ethan reibt sich über die Stirn, auf der ein paar Schweißtropfen stehen. „Puh... Habt ihr im Pausenraum einen Wasserspender?"

„Nein, wir bringen unsere Getränke selbst mit. Du kannst dir ja vorn im Laden etwas kaufen."

Ethan greift an seine Gesäßtasche zu seiner Goldbörse, stockt dann aber. „Ich fürchte, ich bin gerade etwas knapp bei Kasse..."

„Kein Problem. Ich habe eine Flasche Cola dabei. Alternativ kann ich dir etwas Geld vorstrecken. Oder du trinkst Leitungswasser", entgegne ich. Höflichkeit undHilfsbereitschaft ist mir sehr wichtig, zudem hat mir Ethan im Lager wirklich sehr geholfen.

„Für einen Schluck Cola würde ich sterben", erwidert er und lächelt mich charmant an.

Ich muss kurz lachen und drehe mich um, schaue aber kurz, ob Ethan mir folgt. „Komm, machen wir eine kleine Pause."

Wir gehen in den Pausenraum und ich schließe meinen Spind auf. Danach deute ich zur kleinen Spüle. „Da im Wandschrank sind Gläser." Ich hole die Flasche Cola aus meinem Rucksack und fülle die beiden Gläser, die Ethan mitgebracht hat. Er nimmt ein Glas und trinkt es in einem Zug leer. Daher fülle ich es direkt wieder auf und stelle danach die Flasche zurück in den Spind.

„Ein Wasserspender hier wäre echt kein Luxus..."

„Ach was... Nimmt nur Platz weg, muss regelmäßig gewartet und gereinigt werden", halte ich dagegen, immerhin wurde vor zwei oder drei Jahren schon einmal danach gefragt. Klar, es wäre eine wirklich schöne Geste und Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitern.

Aber man sollte als Aushilfskraft nicht zu viel verlangen. Eine der ersten Lektionen hier, in der harten Arbeitswelt. „Vielleicht war ein Wasserspender für deinen alten Arbeitgeber eine Selbstverständlichkeit, aber hier werden die Kosten einfach so gering wie möglich gehalten."

Nachdem wir die Gläser ausgetrunken haben, entschuldigt sich Ethan kurz und fragt nach den Toiletten. Also erkläre ich ihm den Weg. Und während er für starke, muskelbepackte Männer ist, spüle ich schnell die beiden Gläser.

„So, wir können weiter machen", sagt Ethan und hält mir die Tür vom Pausenraum auf.

Ich drehe mich kurz um und stelle die Gläser zum Abtropfen beiseite.

Ethan senkt kurz den Blick, sagt aber nichts.

Wir gehen wieder rüber ins Lager und ich zeige Ethan, wo die einzelnen Kartons nun hin müssen. Überall stehen Schwerlastregale und Schilder zeigen an, was dort gelagert wird.

Am Ende meiner Schicht ist der letzte Karton eingeräumt und ich schaue mich zufrieden im Lager um. Alleine wäre ich nie so weit gekommen und Ethan hat mir alle schweren Kartons abgenommen. „Wow, wirklich gut. Meist schaffe ich am erstenTag nur die Kontrolle vom Lieferschein und eine Palette", gebe ich zufrieden seufzend von mir.

„Du hast das vorher ganz alleine gemacht?"

„Ja, meistens. Hin und wieder war mal einer aus dem Laden dabei. Aber die haben vorne genug zu tun."

„Und wenn dir hier was passiert?"

„Ach was. Das sind nur Kartons", entgegne ich, immerhin mache ich die Arbeit schon eine ganze Weile.

„Hm", brummt Ethan unzufrieden, aber ich zucke nur mit den Schultern.

Wenn ich die nächsten Tage wieder damit beschäftigt bin die Regale aufzufüllen, dann muss er das hier im Lager ja auch alleine machen. Vielleicht wird er sogar mein Nachfolger und ich soll ihn daher direkt anlernen. Immerhin arbeite ich nur noch ein paar Wochen hier.

Mr. Hunter betritt das Lager und klopft dabei kurz an die Tür. „Seid ihr... Oh. Ihr seid fertig geworden."

Ich lächle zufrieden. „Ja, zu zweit geht das schnell, Mr. Hunter."

Wir verlassen das Lager und Ethan und ich können schon Feierabend machen, während die Kassen-Crew damit beschäftigt ist, Geld zu zählen und die anderen Mitarbeiter noch aufräumen.

Vor dem Drogeriemarkt bleibe ich kurz stehen und drehe mich zu Ethan um.

Er hat wieder beide Hände in die Hosentaschen gesteckt und sieht mich fragend an.

Ich räuspere mich kurz. „Nun... Hast du morgen wieder Dienst?"

„Bis zum Ende der Woche. Probearbeiten."

„Eine ganze Woche lang?! Das ist echt die Höhe", entgegne ich entsetzt. Aushilfskräfte werden immer mehr ausgenutzt. Klar, wenn er genommen wird, dann bekommt er diese Woche auch angerechnet. Trotzdem eine miese Nummer, wie ich finde. Vor allem, wenn er nicht genommen wird. „Wundert mich aber nicht, bei den geldgeilen Säcken aus der Zentrale", gebe ich enttäuscht von mir.

Ethan presst die Zähne zusammen und ich sehe seine Wangenknochen deutlich hervortreten. Allerdings lächelt er kurz darauf. „Du kannst ja bei Hunter ein gutes Wort für mich einlegen. Im Gegenzug spüle ich den Rest der Woche die Gläser. Und morgen bringe ich eine Flasche Cola mit."

„Klingt gut. Also dann... Bis morgen, Ethan."

„Bis morgen, Juliana."

Ich muss lächeln und wende mich daher schnell ab. Wenn er die Woche über so nett bleibt, dann frage ich ihn nach seiner Handynummer. Vielleicht könnten wir ein oder zwei Dates...

Schnell schlage ich mir den Gedanken aus dem Kopf. Er hatte nicht mal Geld, um sich im Laden eine Flasche Wasser zu kaufen. Und wenn ich mit meinem Studium fertig bin, arbeite ich in der Zentrale. Dann gehöre ich zu den geldgeilen Säcken, die ich vorhin noch ausgeschimpft habe. Und er ist immer noch ein Lagerarbeiter in Teilzeit. Kann mir nicht vorstellen, dass ihn dieser Job lange glücklich macht. Oder eine Freundin, die besser verdient als er...

Nach ein paar Schritten drehe ich mich um. Ethan steht immer noch vor dem Markt. Und er starrt mir hinterher. Er hebt eine Hand und lächelt kurz, bevor er in die entgegengesetzte Richtung geht.

Mein Herz klopft etwas schneller und mein Blick rutscht an ihm herunter, verweilt einen Moment auf seinem Hintern und ich seufze leise.

Auf dem Weg nach Hause halte ich kurz bei einem Discounter und hole mir etwas fürs Abendessen.

Der erfundene FreundWo Geschichten leben. Entdecke jetzt