Kapitel 44: Fallen gelassen

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POV Juliana

Ich werde wach, weil ich eine Tür höre, die sich schließt. Nur langsam öffne ich die Augen, weil es so hell ist. Es dauert einen Moment, bis ich realisiere, wo ich bin. Im Büro von Ethan. Nein, Alexander. Das Büro von meinem Boss.

Weil ich vorhin die Tür hörte, schaue ich nun dorthin. Allerdings bin ich allein im Büro. Auf dem Tisch vor der Couch ist ein Energydrink, ein Mars und ein Snickers. Ich stehe auf, strecke mich ausführlich und gähne dabei. Mein Blick fällt auf meine Armbanduhr. Mehr als zwei Stunden habe ich nicht geschlafen.

Vielleicht kann ich ja etwas früher Feierabend machen. Ob mir der Abend und die Nacht als Überstunden angerechnet werden? Immerhin habe ich mich nicht ausgestempelt. Allerdings will ich meiner Chefin nicht unter die Nase reiben, dass ich die Nacht hier in Alexanders Büro war. Am besten korrigiere ich zuerst meine Stempelzeiten und sage einfach, ich hätte vergessen, mich auszustempeln.

Ich greife nach der Decke und falte sie zusammen. Die Tür öffnet sich und Tyler Miller, der andere CEO starrt mich verblüfft an. „Oh, falsches Büro!" Ein kurzes Grinsen huscht über sein Gesicht. „Haben wir uns schon mal gesehen?"

Ich bin für den Moment hin- und hergerissen. Wahrscheinlich denkt er jetzt, ich wäre eine Affäre von Alexander. Dann wäre es nicht gut, mich als neue Mitarbeiterin vorzustellen. Andererseits kann es ihm später wieder einfallen und ich sollte einfach ehrlich sein. Was soll schon passieren? Ich werde wohl kaum gekündigt. Zumal nichts passiert ist. „Ja, gestern. Ich habe erst frisch hier angefangen und... Nun, Alexander hatte ein paar Fragen."

„Verstehe." Sein Grinsen wird breiter und ich kann mir schon denken, was gerade in seinem Kopf vorgeht. „Nun, ich möchte nicht länger stören."

Und schon ist er raus und ich bleibe mit offenem Mund im Büro stehen. Es wäre klüger gewesen, ihm zusagen, dass ich Alexander beraten habe. Die ganze Nacht lang... Himmel, das klingt selbst für mich absolut unglaubwürdig! Also falte ich die Decke noch zweimal und lege sie bei Seite. Den

Energydrink und die Schokoriegel lasse ich auf dem Tisch. Sie sind mir einfach zu süß für diese Tageszeit.

Kurz überlege ich, Eth... Alexandereinen Zettel zu hinterlassen und schaue auf den Block. Aber er weiß ja, wo er mich findet. Ich verlasse das Büro und fahre mit dem Fahrstuhl nach unten. Im Spiegel vom Fahrstuhl betrachte ich mich kritisch, kämme mit meinen Händen durch die Haare und zupfe meine Kleidung zurecht. An meiner Etage angekommen, steige ich aus. Ich gehe in das Büro der Personalabteilung und nicke Nina zu, die bereits am Schreibtisch sitzt.

„Guten Morgen", begrüßt sie mich lächelnd.

„Hey." Ich setze mich an meinen Tisch, fahre den Laptop hoch und korrigiere als Erstes meine Arbeitszeiten. Danach schaue ich über die Mails.

„Machst du heute die Liste weiter?"

„Ja, ich wollte mich gerade dransetzen."

„April war vorhin hier und wollte dich sprechen. Wahrscheinlich, wegen der Liste."

„Oh, wirklich? Schon wieder? Dabeiwar sie gestern Nachmittag wegen der Liste hier", erwidere ich irritiert.

Nina hebt nur kurz die Schultern, also schaue ich nach Mails von April. Allerdings ist keine Mail da. Wäre es wichtig, hätte sie mir eine Nachricht hinterlassen. Ich schaue in den Terminkalender von April und sehe, dass sie direkt hintereinander zwei Meetings hat. Das erste mit der Geschäftsführung und das zweite Meeting mit dem Marketing. „Na, ich gehe später mal zu ihr hoch und mache derweil die Liste."

Die anderen Kollegen kommen herein und ich grüße freundlich, selbst Jacob. Sie reden über ein paar private Dinge. Wie der gestrige Tag noch war, Pläne für das Wochenende und mehr. Da mich das nicht sonderlich interessiert, gehe ich in die große Gemeinschaftsküche auf dieser Etage, nehme eine Tasse und bediene mich an dem Kaffee, der in einer großen Kanne bereitsteht. Zurück im Büro wird noch immer über die Pläne am Wochenende geredet. Also setze ich mich an meinen Schreibtisch und stelle die Tasse ab.

„Hast du das Wochenende etwas vor, July?", fragt Nina und sieht zu mir herüber.

„Ich werde was mit meiner besten Freundin unternehmen. Vielleicht gehen wir bouldern."

„Das klingt cool."

Ich erwidere nichts darauf, sondern grinse Nina nur kurz an. Während ich die Liste öffne, trinke ich einen Schluck Kaffee. Mir wird richtig übel und ich spucke den Kaffee wieder zurück in die Tasse. Widerlich!

Jacob lacht leise. „Alles okay?"

„Ja, der Kaffee ist nur schon kalt."

„Dann ist der wahrscheinlich noch von gestern."

Ich nehme die Tasse, gehe zurück in die Küche und kippe den Kaffee aus. Am Automaten ziehe ich mir eine Dose Cola. Was solls. Hauptsache, ich werde den ekeligen Geschmack los. Nach ein paar kleinen Schlücken ist es etwas besser, also gehe ich zurück an die Arbeit. Noch vor der Mittagspause werde ich fertig und sehe, dass auch April keine Meetings mehr hat.

Schnell speichere ich noch meine Arbeit und gehe dann zum Fahrstuhl, fahre eine Etage hoch zu April. Dort klopfe ich an die Tür und trete kurz darauf ein.

„Hallo, Juliana", begrüßt sie mich. „Setz dich doch bitte."

Etwas irritiert komme ich der Aufforderung nach und setze mich. Gestern hat sie mich auch schon geduzt. Warum fällt es mir erst heute auf?

April reicht mir einen Brief, den ich mit hochgezogenen Augenbrauen annehme. „Was ist das?"

„Deine Kündigung... Leider."

„Was? Echt?" Sofort öffne ich den Brief, überfliege die Zeilen und schaue dann nach ganz unten. Beide Geschäftsführer haben unterschrieben. Das... kommt unerwartet. Ich weiß nicht mal, ob ich wütend, traurig oder enttäuscht bin. Vermutlich eine Mischung aus allem. Aber je öfter ich über die Zeilen fliege, je mehr gewinnt die Wut in mir die Oberhand. „...und bedanken uns für die Zusammenarbeit..."

April seufzt tief. „Es tut mir wirklich leid. Du hast gut zu uns gepasst."

Ich stehe langsam auf, falte das Schreiben und stecke es in die Gesäßtasche. Das ist also der Dank dafür, dass ich mir die Nacht um die Ohren geschlagen habe... Ethan... Alexander... Mir egal, wie er heißt. Aber wenn er mir noch einmal unter die Augen tritt, dann reiße ich ihm den Arsch auf! „Ich denke, es ist besser so. Wer will denn schon für ein Unternehmen arbeiten, das kurz vor der Insolvenz ist?! Da draußen warten bessere Jobs auf mich, für die ich nicht überqualifiziert bin und wo ich angemessen bezahlt werde." Wütend wende ich mich ab und verlasse das Büro. April hat mir nichts hinterhergerufen. Wahrscheinlich war sie von meinen offenen Worten viel zu geschockt. Ist mir auch egal.

Zurück im Büro bin ich froh, dass es leer ist, weil alle zu Tisch sind. Es fällt mir schwer, meinen Laptop einfach liegenzulassen. Am liebsten würde ich ihn gegen die nächste Wand werfen. Und das Büro abfackeln. „Wir danken Ihnen für die Zusammenarbeit." Ich äffe die Stimme von Alexander nach, greife dabei nach meiner Handtasche und kontrolliere gründlich, dass ich auch nichts liegen lasse. Den Kugelschreiber nehme ich einfach mit. „Arschloch!"

Nachdem ich alles habe, gehe ich zum Fahrstuhl, fahre runter ins Erdgeschoss und gebe am Empfang meinen Dienstausweis ab. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, verlasse ich das Gebäude, gehe zur nächsten Haltestelle und fahre mit dem Bus zum Hauptbahnhof und danach mit der U-Bahn bis zu mir nach Hause.

Erst, als ich zu Hause bin, innerhalb meiner eigenen vier Wände, lasse ich die Tränen endlich heraus und fange hemmungslos an zu weinen. Wie konnte ich so ein Arschloch nur lieben?! Er hat mich eiskalt fallengelassen, nachdem er meine Hilfsbereitschaft so schonungslos ausgenutzt hat. Ich sollte froh sein, dass ich in so einer Firma nicht mehr arbeiten muss! Vielleicht fange ich sogar direkt bei der Konkurrenz an!

Scheiße... Trotzdem zerreißt es mir das Herz. Die letzten Wochen habe ich mir so sehr gewünscht, ich sehe ihn wieder... Ich dachte, ich könnte ihm mit der Zeit sogar verzeihen, dass er sich nicht bei mir gemeldet hat. Aber die Kündigung... Nein, das kann ich ihm nicht verzeihen!

Der erfundene FreundWo Geschichten leben. Entdecke jetzt