30. Kapitel

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S C H A T T E N P F O T E

Kaltes Mondlicht flutete auf den Boden von Schattenpfotes Gefängnis und sein graues, stumpfes Fell schimmerte silbern.
Draußen hörte er die leisen Stimmen seiner Wachen, die gedämpft eine fast lautlose Diskussion führten.

Er richtete den Kopf zum sternenlosen Himmel, kniff die Augen zusammen und erkannte zwischen den schleierhaften Wolken einen perfekten Halbkreis, dessen Licht sich in seinen azurblauen Augen spiegelte.
Heute.
Heute war es so weit. Er würde fliehen.
Schon beim Gedanken daran zog sich alles in ihm zusammen.

Schattenpfote spähte durch den schmalen Schlitz, der in Richtung der Gasse lag, und erblickte zufrieden die hellgrünen Augen seiner Verbündeten.

Taupfote und er verabscheuten die Lebensweise des EisClans gleichermaßen und doch sahen beide ein, dass die verzweifelten Katzen keine andere Wahl hatten. Froststern war nicht so grausam, wie er angenommen hatte. Er wollte nur, dass der Clan überlebte und das war ihm wichtiger als das Leben einzelner Katzen.

Schon als er zum ersten Mal die Augen der Schülerin gesehen hatte, hatte er einen Fluchtplan ausgeheckt, doch Froststern war stets zu vorsichtig gewesen.
Erst, als Federstern das NebelClan-Territorium im Tausch für sein Leben angeboten hatte, hatte er beschlossen, das nicht zuzulassen. Nicht jetzt, nicht morgen, niemals sollte der Clan sein Zuhause für Schattenpfote aufgeben.

Er nickte der hellbraunen Kätzin fast unmerklich zu und lauschte, als sie am Rande des Donnerweges die Schnauze weit aufriss.
Dann ein Schrei.

»Froststern! Der NebelClan greift an! Und sie haben Verbündete!«, heulte Taupfote erschrocken auf.

Der gewaltige Kater schreckte aus dem Halbschlaf auf und knurrte sofort.
»Alle Krieger kommen mit mir! Taupfote, bleib bei dem Gefangenen. Auch wenn wir nicht zulassen werden, dass der NebelClan ihn bekommt!«
Immer mehr Augen blitzten aus der Dunkelheit hervor und zahllose Katzen huschten ihrem Anführer nach. Der EisClan jagte aus der Gasse hinaus.

Nur Taupfote nicht. Sie sprintete zu Schattenpfotes Gefängnis und der silberne Kater schob sich, vor Aufregung bebend, durch den schmalen Schlitz.
Wie hat sie es bitte geschafft, dass Froststern ihr einfach so glaubt?
Er schob diesen Gedanken irgendwo in die Tiefen seines Gehirnes, denn momentan interessierte es ihn einen dreckigen Mäuseschwanz, warum Froststern ihr so vertraute. Wichtig war nur, dass er es tat.

»Komm, beeil dich! Wir verschwenden Mondlicht«, zischte die Hellbraune, ihre leuchtenden, sternengleichen Augen funkelten gehetzt.

Sie hatte recht. Jeden Herzschlag konnten die EisClan-Katzen merken, dass das alles nur ein -mehr schlecht als recht geplanter- Fluchtversuch war.
Schattenpfote atmete tief durch, die stinkende Luft aus Donnerweg-Abgasen und Katzenblut strömte in seine Lungen.
Dann raste er los, Seite an Seite mit Taupfote, doch er hatte keine Chance, mit den langen Sprüngen der jungen Kätzin mitzuhalten. Seine Muskeln waren schwach nach zwei Monden fast ohne Bewegung und die Rippen stachen wie hässliche Beulen aus seinem Körper hervor, gezeichnet vom Nahrungsmangel des EisClans.

Immer größer wurde der Lichtfleck am Ende der Gasse und Schattenpfote spurtete, so schnell ihn seine dürren Beine trugen, bis vor ihm der Donnerweg auftauchte.
Dunkler, rauer Stein ragte direkt vor seinen Pfoten auf und er machte einen kleinen, etwas unangebrachten Freudensprung. Er war frei! Auf der anderen Seite des Donnerweges lag das Territorium seines Clans!

Grelles Licht blendete ihn, nahm ihm die Sicht und ließ ihn für einen Moment erstarren, bevor dornenspitze Krallen ihn packten und mit gewaltiger Kraft zurückrissen. Zunächst wehrte er sich panisch, bis er das hellbraune Fell erkannte.

Nur wenige Herzschläge später zischte ein Monster mit gewaltigen, röhrenden Pranken vorbei.
»Danke«, keuchte Schattenpfote.

Erstaunt sah er, wie Taupfote das Ohr auf den Boden presste und dann nickte.
Die Kätzin raste los, Schattenpfote dicht auf den Pfoten, doch der graue Kater hatte keine Chance, mitzuhalten auf seinen kurzen, dürren Beinen.

Hinter ihnen, ein wütenden Jaulen. Erschrocken machte Schattenpfote auf der Pfote kehrt und blickte in zahllose, hasserfüllt blitzende Augen.
Fuchsdreck! Sie haben es bemerkt!
Froststerns Tatzen donnerten auf den Donnerweg, während er seinen Katzen zurief:
»Lasst sie nicht entkommen! Ich erlaube jedem Krieger, den Schüler zu töten! Für den Clan!«

Einen Moment lang war der silberne Kater wie gelähmt vor Furcht.
Dann raste er los.
Schattenpfote konnte sich nicht erinnern, jemals so schnell gelaufen zu sein. Nicht, als Honigwolke verschwunden oder er gefangen worden war. Nicht, als er Sturmläufer gesehen hatte, wie sie Rankenfluss' schlammbeschmierten Leichnam ins Lager gezerrt hatte.
Seine Pfoten flogen nur so über den Boden und doch schien er kaum Mäuselängen voranzukommen.

Was sollte er tun? Denk, Schattenpfote, denk nach!
Er konnte nicht zum NebelClan. Der kleine Clan im Sumpf hatte keine Chance gegen die zähen, skrupellosen EisClan-Katzen und niemals würde er seine Feinde zu seinen Clan-Gefährten führen.
Aber was war mit den anderen Clans? Der LichtClan war unerreichbar, denn Schattenpfote war zwar ein guter Schwimmer, Taupfote aber nicht.

Der FlammenClan!
Die kriegerischen Waldkatzen waren der größte Clan - und der, der es am ehesten mit den sternenlosen Kriegern aufnehmen konnte. Mit der Hilfe der zähen, flinken SturmClan-Katzen könnten sie den EisClan schlagen!

Feuchtes Gras fühlte er unter seinen Pfoten. Der Donnerweg war überwunden und nun bog Schattenpfote scharf links ab, um das Territorium des NebelClans zu umgehen.
Verwirrung blitzte in Taupfotes Augen auf, doch die Kätzin vertraute ihm und folgte dem Heilerschüler mit gewaltigen Sprüngen.
Der Boden unter ihm wurde trockener, fester und immer größere Heidebüschel ragten aus der Erde, die sich noch immer nicht ganz von den heftigen Erdbeben erholt hatte.
Der NebelClan-Kater keuchte jetzt schon erschöpft, fiel immer weiter hinter Taupfote zurück.

Verbissen kämpfte er sich weiter vorwärts, spürte schon fast die Krallen und den heißen Atem der EisClan-Katzen an seinen Hinterläufen, da erkannte er vor sich die blassen Silhouetten von Bäumen. Der Wald! Das FlammenClan-Territorium!

Ein schlechtes Gewissen nagte an ihm, weil er den Feind in ein fremdes Lager lockte, aber ihm fiel nichts besseres ein.
Zu einem letzten Sprint streckten sich seine Beine, bis er in den Schatten des Waldes eintauchte -
Und nun erst realisierte er, dass er absolut keine Ahnung hatte, wo das Lager liegen könnte.
Blind vor Angst und Erschöpfung preschten die jungen Katzen an den schattenhaft emporragenden Stämmen vorbei.

Nach einer gefühlten Ewigkeit lichtete sich der Wald und gab den Blick frei auf eine von dichtem Brombeergebüsch bewachsene Lichtung frei.
Vor Erleichterung entfuhr ihm ein Schrei.

Und da spürte er, wie gewaltige Klauen ihn umrissen und an den Boden nagelten. Zappelnd blickte er nach oben-
Und starrte direkt in die hasserfüllt zusammengekniffenen, eisblauen Augen von Froststern.

Warrior Cats - Sternenpfade || Band I-IIIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt