55. Kapitel

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Einige Herzschläge lang tat er nichts, starrte nur entgeistert auf das blutende silberweiße Fellbündel. Der Schock saß tief in seinen Knochen, als wären diese eingefroren. Die Hagelkörner prasselten auf seinen Pelz, der strömende Regen wusch das Blut weg.

Er verstand nicht, das passiert war. Sah nur Blut. Regen. Finsternis.
Das Dröhnen eines Monsters in der Ferne. Panische Schreie, die er erkennen sollte. Doch er tat es nicht.

Es war, als hätte sich ein Schleier auf all seine Sinne gelegt. Er erkannte nur verschwommene Lichtkegel. Rotes, goldenes, silbernes Fell und die tiefblauen Augen Eissterns, die sich in seine Seele eingebrannt hatten. Geprägt von der lähmenden Furcht.

Er hätte Angst empfinden müssen, aber Schattenschwinge spürte nichts. Bekam nur am Rande seines Bewusstseins mit, dass ihn erneut Krallen packten. Ihn wegrissen aus dem strömenden Regen.
Die Erinnerungen verschwammen, in seinem Kopf tanzten verschiedenste Orte, Katzen, Kämpfe durcheinander. Rankenfluss. Sumpfjunges. Mondfeuer. Nebelblatt.

Mondfeuer... war sie tot? Was war eben passiert?
Alles verschwamm immer weiter, bis nur noch Finsternis zurückblieb.

***

Langsam bröckelte der Schock wie ein Eisblock, wenn die ersten Sonnenstrahlen ihn berühren.
Sanft kitzelte ein Halm seine Schnurrhaare, die warme Blattfrische-Sonne spürte er auf seinem grauen Pelz.
Aufgeregte Stimmen wurden immer klarer, bis er Honigwolke erkannte. Kleepfote. Eulenschrei.

»SternenClan sei Dank! Mir ist es wirklich ein Rätsel, wie ein so friedfertiger Kater wie du so oft bewusstlos in meinem Bau landest. Blütenfrost hat mir erzählt, was passiert ist. Das klingt ja grauenvoll!«
Honigwolke wirkte besorgt wie eine Mutter, die ihr Junges behütete.

Langsam, ganz langsam öffnete er die blauen Augen. Blinzelte gegen das Licht an, das schrecklich grell wirkte.
Ebenso langsam kehrten die Erinnerungen zurück - und damit die Panik.
»Was... was ist mit Mondfeuer? Eisschatten?«, krächzte er so laut, dass die Katzen, die um ihn herumstanden, ihn verstehen konnten.

Kleepfote entfuhr ein Schluchzen, sie drehte sich weg, und Eulenschrei sagte mit für ihn ungewöhnlicher Ernsthaftigkeit: »Tot.«
Seine Grabesstimme brach. »Das erste Mal, dass ich mir wünsche, der SternenClan würde existieren.«
Sein Schweif schleifte auf dem Boden, die Ohren hingen tief herab.

»Das tut er doch«, maunzte Honigwolke sanft und schleppte sich auf ihren zwei noch intakten Beinen zu Schattenschwinge hinüber.
Dieser schluckte schwer, das schlechte Gewissen grub sich schmerzhaft in seinen Bauch. Mondfeuer war auf Eisschattens Seite gewesen - aber sie hatte sich der brutalen Kriegerin entgegengestellt. Hatte sie es für ihn getan? Nein, bei Mondfeuer konnte er sich eine so selbstlose, heldenhafte Tat nicht vorstellen. Warum?

Egal, ob sie nun für ihn Eisstern widersprochen hatte oder nicht - er war schuld an ihrem Tod. Er hatte unbedingt nach Taupfote suchen wollen!
Taupfote... was war eigentlich mit ihr? Die Suche war umsonst gewesen, aber vielleicht...
»Was ist mit Taupfote?«, wisperte er, die Ohren schon angstvoll angelegt.

»Sie... sie wacht nun über dich. Von den Sternen.«
Federstern war zu Schattenschwinges Nest vorgetreten, als dieser qualvoll aufkreischte.
Die Verzweiflung schien sein Herz in winzige Fetzen zu reißen und nichts als eine gähnende, leere Finsternis zurückzulassen.
Das konnte nicht sein. Er träumte! Das war nicht möglich.

Er biss sich tief in den Vorderlauf, bis er Blut schmeckte. Es war kein Traum. Der Schmerz flammte durch sein Herz, doch immerhin lenkte ihn der Blutgeschmack auf seiner Zunge, die brennende Wunde von der Trauer ab.
Konnte das stimmen? Konnte Taupfote wirklich tot sein?

»Oh SternenClan!«, heulte er. »Warum tut ihr mir das an? Warum kann ich nicht einfach ein normales, glückliches Leben führen?« In Frieden, fügte er in Gedanken hinzu.

Rankenfluss. Dann Sumpfjunges. Sonnenglanz' Abweisung. Mondfeuer. Und jetzt seine Verbündete, seine Freundin? Die einzige Freundin, die er je gehabt hatte und die Katze, ohne die er jetzt tot oder der NebelClan vertrieben wäre. Oder beides. Taupfote war eine Heldin.
»W-warum«, fragte er mit bebender Stimme, »warum bist du dir so sicher?«

Federstern senkte ruhig den Kopf.
»Ich habe sie gesehen, Schattenschwinge. Ich habe sie gesehen unter den Sternenkriegern. Sie hat mit mir gesprochen. Taupfote wurde im SternenClan aufgenommen. Und sie hat mir etwas gesagt.«
Er beugte sich tief zu dem zitternden Schattenschwinge hinunter, wisperte ihm ins, für eine Katze recht große, Ohr.
»Du kennst die Prophezeiung, nicht wahr?«
Er nickte stumm, unfähig, etwas zu sagen.

»Taupfote hat gesagt, für das, was vor uns liegt, brauchen wir drei Dinge - Friede, Mut und Hoffnung. Und du bist der, der den Clans den Frieden bringen wird, Schattenschwinge.

Glaub mir, ich weiß genau, wie sich so etwas anfühlt. Aber du musst versuchen, nach vorne zu blicken. Der Clan braucht dich und Taupfote will nicht, dass du um sie trauerst.«
Federstern legte sanft den buschigen Schweif über seinen Rücken, wie ein stolzer Vater es tun würde. Hatte er Junge? Wahrscheinlich nicht.

Er war verwirrt. Der junge Heiler fühlte sich durch die Worte seines Anführers kaum getröstet und jetzt fing Federstern schon wieder mit dieser Prophezeiung an! Gerade war alles, was er sich wünschte, ein normaler Heiler mit einem normalen Leben zu sein, ohne verstörende Visionen, ohne von Eisschatten verfolgt zu werden, ohne am Tod einer Kriegerin schuld zu sein.

Schattenschwinge wurde von einem Ruf aus seinen Gedanken gerissen. Sonnenglanz stürzte in den Heilerbau. »Sturmläufer bekommt ihre Jungen!«, rief sie mit weit aufgerissenen Augen. Honigwolke begann sofort, mit ihren Vorderpfoten in den Vorräten zu kramen und dann auf zwei Beinen in Richtung Kinderstube zu kriechen.

»Wenn was ist, ruf einfach! Du kannst auch mitkommen, wenn es dir gut genug geht. Das wäre bestimmt eine gute Gelegenheit, Erfahrung als Heilerkatze zu sammeln«, miaute sie noch gehetzt, dann verschwand die Rot-Weiße im von dichtem Schilf umgebenen Bau, aus dem markerschütternde Schreie drangen.

Er war überrascht, dass Honigwolke den zukünftigen Vater der ungeborenen Jungen  nicht empört hinausschickte, so wie sie es immer machte - das hatte sie ihm zumindest erzählt. Das bedeutete, dass der Vater - Nebelblick, der Zweite Anführer - gar nicht da war! Es war keine Patrouille unterwegs, alle Krieger waren im Lager - außer Nebelblick. Dabei bekam seine Gefährtin doch gerade Junge!
Er wird schon einen Grund haben...

Sein blauer Blick wanderte zurück zu Sonnenglanz. Seine Mutter hatte ihn nicht besucht wie es seine Geschwister getan hatten. Selbst jetzt schien er Luft für sie zu sein! Die Kriegerin mit den hellgrünen Augen und er hatten sich auseinandergelebt, das stimmte, und sie waren gänzlich anderer Meinungen. Aber er war doch immer noch ihr Sohn... oder?

Sonnenglanz drehte sich ohne einen weiteren Blick weg und tappte vor der Kinderstube auf und ab.

Verstehe.

Warrior Cats - Sternenpfade || Band I-IIIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt