"Die alte Clara."

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"Du hast ja keine Ahnung, wie ich mich in dem Moment gefühlt habe."
"Ich wusste nichts davon. Du hast mir nichts davon gesagt."
"Wie konntest du mir das nicht sagen? Wann hat das alles angefangen? Vor einer Woche? Vor einem Monat?"
Ich ließ Justins harte Worte auf mich niederprasseln und fühlte mich bei jedem weiteren Wort nur noch schlechter.
Ich spielte aufgebracht mit meinen Händen, während ich schweigend auf Justins Bett saß.
Warum wir wieder zu Hause waren?
Weil die Spur zu nichts geführt hat. Ted war wieder wie vom Erdboden verschluckt und selbst mit der Unterstützung von James, Ethan, Brian und Jacob wurde er nicht gefunden.
Ich hätte es wissen müssen. Ted hätte niemals riskiert sich erwischen zu lassen.
Er wollte nichts anderes als mir noch mehr Angst einzujagen. Und ja, das hatte er geschafft. Er war nur wenige Meter von Clara entfernt gewesen.
Wenn ich mir ausmale, dass er ihr wieder etwa antun hätte können, zieht sich mein Magen schmerzlich zusammen.
"Ich habe dich etwas gefragt."
Ich hob den Blick und sah Justin von unten an.
Ich fühlte mich so klein und wertlos. Ja, das Gefühl konnte er einem manchmal geben, allein durch seine strengen, enttäuschten und zugleich wütenden Blicke.
"Ich weiß es nicht genau.", log ich, weil ich mich nicht traute ihm die Wahrheit zu sagen. Einen Streit hätte ich in dem Moment nicht verkraften können.
Er verzog das Gesicht, weil er wusste, dass ich ihn anlog. "Lüg mich nicht an."
"Kann ich wieder zu Clara fahren?", fragte ich ihn und wusste selber nicht, was in mich gefahren war.
Sein Ausdruck veränderte sich von wütend zu komplett verwirrt. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, gestikulierte währenddessen unsinnig mit seinen Händen herum.
"Was redest du das plötzlich?"
"Wir sind so plötzlich aus dem Krankenhaus gestürmt. Jacob hat mich direkt nach Hause gefahren und jetzt sitze ich einfach schon seit Stunden hier, obwohl ich bei Clara sein sollte. David ist bestimmt schon-"
"Du meinst das gerade nicht wirklich ernst, oder?"
Er guckte mich an, als würde ich chinesisch sprechen. Ich konnte seine Reaktion auf meine Bitte nicht ganz verstehen. Er dachte, es wäre wichtiger über ein paar Blumen zu reden, als bei meiner im Koma liegenden besten Freundin zu sein.
Ich antwortete ihm nichts darauf, weil ich nicht wollte, dass die Sache eskalierte. Vielleicht würde er selbst einsehen, dass ich nicht über gelbe Rosen reden wollte, wenn ich bei Clara sein könnte.
Als er merkte, dass ich ihm nicht antworten würde, drehte er sich um, hob beide Hände und blickte Richtung Decke. Ich fühlte mich furchtbar, als seine Hände sein Gesicht trafen und ich ihn deutlich ausatmen hören konnte. Er schien noch wütender zu sein, als ich angenommen hatte und letzendlich konnte ich damit nicht leben.
Ich stand auf, obwohl meine Beine sich anfühlten wie Wackelpudding. Wie schlimm es wohl gewesen wäre, wenn ich diese paar Stunden Mittags nicht geschlafen hätte. "Es tut mir Leid. Ich erzähl's dir."
Als ich meine Hand um seinen Arm legen wollte, um zu verhindern, dass er ging, zuckte er instinktiv zurück.
"Ruf David an und frag ihn höflich, ob er dich abholen kann, wenn er nicht schon losgefahren ist. Wenn er schon im Krankenhaus ist, dann werde ich dich fahren."
Ich blinzelte perplex mit meinen Augen um sicherzugehen, dass ich das nicht träumte.
"Warum? Ich will es dir doch erzählen." Ich konnte nicht ertragen, dass er so wütend auf mich ist, dass er mich sogar nicht mehr anschreit. Schreien war besser als diese erdrückende Ignoranz, dieses heuchelnde Verständnis.
"Das brauchst du nicht. Ich bin schon immer ohne deine Hilfe zurecht gekommen."
Er öffnete die Tür und schloss sie genauso schnell, nachdem er über die Türschwelle getreten war.
Das erdrückende Gefühl in meiner Brust wurde größer und ehe ich mich versah, fiel ich erschöpft auf das Bett. Ich griff nach meinem Kopfkissen und drückte es mir ins Gesicht.
Mein Schreien wurde von dem Kissen gedämmt. Selbst die ganz lauten.
Als ich fertig damit war meine Wut rauszuschreien, richtete ich mich wieder auf und atmete durch. Ich wusste nicht, ob ich mich jetzt besser fühlte. Wenigstens weinte ich nicht, jedoch wusste ich nicht, ob diese aggressive Wut besser war.
Er ist schon immer ohne meine Hilfe zurecht gekommen.
Wann war das letzte Mal, das er so etwas Böses zu mir gesagt hat?
Ich wollte nicht darüber nachdenken und rief stattdessen David an. Er hatte mich schon zwei mal versucht anzurufen.
"Gott, Alison! Wo zur Hölle warst du?"
Ich verdrehte die Augen. Musste mich denn heute jeder anschreien?
"Mein Handyakku war leer, aber jetzt habe ich ihn wieder aufgeladen."
Er zögerte, bis er schließlich fragte: "Bist du noch bei Clara?"
"Nein, wir sind zu Justin gefahren, aber ich will wieder dahin. Kann-"
"Ja, ich komme dich abholen. Bin in 20 Minuten da." Diese schnelle Antwort überraschte mich. Er wollte bestimmt gerade zu Clara fahren. Mein Anruf kam also zum Glück nicht zu spät.
"Danke dir." Und so meinte ich das auch. Ohne ihn wäre ich aufgeschmissen. "Hab dich lieb."
"Jetzt übertreib mal nicht.", sagte er und löste ein Lachen in mir aus. An der anderen Leitung hörte ich seins.
"Ich hab dich auch lieb. Bis gleich."

Ich hörte ein leises Klopfen und war gezwungen meine Augen zu öffnen. Blitzschnell richtete ich mich auf, als ich merkte, dass ich für wenige Minuten eingenickt war. Ich hatte in letzter Zeit wirklich viel zu wenig Schlaf abbekommen.
Die Tür öffnete sich, als ich mir die Augen vor Müdigkeit rieb. Ich erwartete Justin und bereitete mich mental schon einmal auf das unangenehme Gespräch vor. Doch ich erblickte blonde Haare und lange Beine und atmete laut aus. Vor Erleichterung.
„Darf ich reinkommen?", fragte sie und ein kleines Lächeln zierte ihre Lippen. Ihre geschwollenen, roten Augen waren nicht zu übersehen. Vielleicht hätten wir gemeinsam ein Nickerchen machen sollen.
„Natürlich." Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich. „Aber ich fahre gleich wieder ins Krankenhaus."
Sie nickte, bevor sie sich neben mich aufs Bett setzte. „Darüber wollte ich mit dir reden. Wäre es okay, wenn ich mitkomme?"
Ich konnte meine Überraschung nicht verstecken. Warum wollte sie Clara besuchen? Sie kannten einander doch kaum.
„Ich habe schon mit Justin darüber geredet und er meinte, dass ich dich fragen soll."
„Ja, weil er nichts damit zu tun hat." Ich verdrehte meine Augen, aber nicht ihretwegen, sondern wegen Justins Äußerung. Ich habe mich bei ihm entschuldigt und wollte ihm doch alles über die gelben Rosen erzählen, warum musste er dann so nachtragend sein?
Clara sah mich irritiert an und ich erinnerte mich an ihre Bitte.
„David wird mich fahren. Du kannst selbstverständlich mitkommen."
„Dankeschön, Allie. Du kannst natürlich auch Nein sagen, wenn du das nicht möchtest. Es gibt genug Gründe dafür."
„Ja, ich weiß." Ein Grund wäre zum Beispiel, dass sie mit ihm eine lange Zeit lang unter einer Decke gesteckt hat und mich irgendwo tief im Inneren immer noch hasst. „Warum willst du sie denn besuchen? Immerhin kanntet ihr euch nicht."
„Ich-.", sagte sie und begann ihre Hände zu kneten. Hat sie sich diese Angewohnheit von mir abgeguckt oder besaßen wir etwa Gemeinsamkeiten? „Ich habe irgendwie das Gefühl, als wäre ihr Unfall auch meine Schuld. Deshalb ist sie zu Besuchen und für sie zu beten glaube ich das Mindeste, was ich tun kann."
Es lag so viel Tiefe und Frust in ihrer Stimme, dass ich eine unangenehme Gänsehaut bekam und ihr nicht einmal in die Augen gucken konnte. Ich wusste nicht, was ich darüber denken sollte, geschweige denn was ich ihr antworten sollte. Sollte sie wirklich so denken und sich mit diesen Schuldgefühlen herumschlagen, dann tat es mir Leid für sie.
Ich glaube nicht, dass sie Ted irgendwie hätte aufhalten können.
Ich glaube nicht, dass das irgendwer jemals könnte.
Das Klingeln meines Handys rettete mich.
Ich stand vom Bett auf um mein Handy von der Kommode zu nehmen und Davids Anruf abzuheben.
Nachdem ich kurze Sätze mit ihm ausgetauscht hatte, verstaute ich das Handy in meiner Tasche und sah zu Megan.
„David wartet draußen."

Ich ging die Treppen runter, als ich plötzlich die Anwesenheit einer Person vor mir spüren konnte. Ich blieb auf einer Stufe stehen und sah hoch - geradewegs in Justins Gesicht.
„Soll ich euch fahren?", fragte er und der angespannte Unterton in seiner Stimme war rauszuhören.
Die Zornfalten in seinem Gesicht machten ihn nicht unattraktiver, wie war so etwas möglich?
„David wartet draußen auf uns."
Ich beobachtete, wie die Falten vor Verständnislosigkeit tiefer wurden. „Ich habe doch gesagt, dass ich dich fahren kann, Alison?"
War das eine Frage?
„Nein, du hast gesagt, dass ich David anrufen soll und dass du mich nur dann fährst, wenn er schon im Krankenhaus ist."
Ich wollte an ihm vorbei gehen, weil ich verärgert war. Warum behauptet er etwas, was so gar nicht vorgefallen war?
Ja, ich wollte an ihm vorbei gehen und ihn dumm stehen lassen, aber er hielt mich an meinem Arm fest, bevor ich überhaupt zwei weitere Stufen überwinden konnte.
Ich drehte mich zu ihm um und erkannte pure Entschlossenheit in seinem Blick aufblitzen. „Ich komme mit."
Was? „So viele dürfen nicht in ihr Zimmer."
Gott, mussten wir uns etwa vor Megans Augen streiten?
„Dann warte ich eben vor ihrem Zimmer."
„Hast du Cooper und Burk etwa gefeuert?"
Er presste wütend seine Lippen aufeinander und in dem Moment wusste ich, das ich vielleicht übertrieben hatte. Wenig später spürte ich, wie er seine Hand von meinem Arm nahm, weil er mir nicht wehtun wollte.
„Ich gehe nur kurz mein Portemonnaie von oben holen." Er schenkte mir ein gehässiges Lächeln und ich ahnte, dass die nächsten Stunden mit ihm nicht leicht werden würden. Ich nickte ihm zu, erwiderte währenddessen provokativ sein Lächeln, ehe wir aneinander vorbeigingen und unsere Schultern dabei zusammenstießen. Das war so absurd, dass ich sogar ein Lachen unterdrücken musste.

Megan und David unterhielten sich die ganze Autofahrt über. Justin saß vorne im Beifahrersitz und ich teilte mir mit Megan die Rückbank.
Ich sah überwiegend aus dem Fenster und lauschte dem Gespräch der beiden, ohne mich einzumischen.
David redete ein wenig über sein Auslandsjahr in Deutschland, während Megan von ihren Plänen für die Universitäten redete.
Sie hat sich bei einigen sehr guten Unis angemeldet. Ich wusste damals schon, dass sie nicht dumm ist, nur weil sie blond ist. Immerhin hat sie das Praktikum bei Jason

gemacht, als sie sechzehn war.
"Wie kommt es eigentlich, dass ihr euch kennt?", fragte David, als wir noch circa fünf Minuten vom Krankenhaus entfernt waren. Ich verdrehte die Augen und suchte

seinen Blick im Rückspiegel. Als er mich ansah, hob ich beide Augenbrauen. "Oder bist du mit einem der anderen Jungs befreundet, Megan?"
Ich konnte mir kein Schmunzeln unterdrücken. Gut geretten, David.
"Ja." Megan gewann meine Aufmerksamkeit und ich drehte mich zu ihr. Sie kratzte sich an der Nase und ich wusste, dass sie überrascht von dieser Frage war. "Mit Ethan,

schon sehr lange." Sie machte eine Pause und schien über ihre Antwort nachzudenken. "Aber auch mit den anderen verstehe ich mich gut."
Kurze Zeit später erwiderte sie meinen Blick und formte mit ihren Lippen ein "Sorry". Ich zuckte mit den Achseln und lächelte leicht. Seitdem ich Justin und die Jungs

kenne bin ich schließlich auch die ganze Zeit dazu gezwungen, David anzulügen.

"Habt du und Justin irgendwie Streit?", fragte mich David ganz beiläufig, als wir aus dem Auto ausgestiegen waren und auf den Krankenhauseingang zuliefen. Justin ging

wenige Schritte vor uns und Megan lief mit kleinem Abstand neben mir her.
Irgendwas an der Frage löste einen Schmerz in meiner Bauchgegend aus. War Justin denn wirklich so wütend auf mich? Er hat den ganzen Weg über nicht mit mir geredet.

Diese Erkenntnis machte mir wirklich sehr zu schaffen.
"Wir haben uns eben ein wenig gezofft." Ich zuckte mit den Achseln und täuschte ein Lächeln vor. "Er ist ein bisschen eingeschnappt, aber er kriegt sich wieder ein."
David hob kritisch eine Augenbraue und ich ahnte, das er nachfragen würde, was ich unbedingt verhindern wollte.
Ich wandte mich von ihm ab und wollte mich zu Megan drehen, um ein Gespräch mit ihr anzufangen, damit mich David nicht mit Fragen überhäufen konnte.
Mein Blick schwiff jedoch ab und blieb bei einem großen Pavillion hängen, unter dem Besucher aber auch Patienten dieses Krankenhauses frische Luft holen konnten. Ich

erkannte ein bekanntes Gesicht unter vielen unbekannten und wenige Sekundenbruchteile später hatte ich auch den dazugehörigen Namen parrat.
Sie redete mit einem Jungen, der sein ganzes Bein eingegipst hatte und sich auf Krücken stützte. Ihr Gesicht war in meine Richtung gedreht und nach längerem

Begutachten war ich mich sehr sicher, dass sie es sein musste.
Auch wenn ich sie ganz anders in Erinnerung hatte.
"David?" Ich legte meine Hand um seinen Arm und suchte seinen Blick auf. "Kannst du mit den beiden schon einmal hochgehen? Da hinten ist eine Freundin von mir,

Jessica, die ich sprechen will." Ich fuchtelte mit meiner anderen Hand in der Luft herum. "Ich erkläre dir alles später, aber würdest du das machen?"
Er schien ein wenig überrascht und seine Augen suchten das Mädchen, von der ich sprach.
"Ja, klar?"
"Ich erklär's dir wirklich.", versicherte ich ihm, bevor ich einen anderen Weg einschlug als er, Megan und...Justin.
Was würde er denken?
Ich hoffte, dass er erst im Aufzug merken würde, dass ich fehlte, sodass ich wenigstens einige Minuten mit Jessica alleine hatte. Denn ich war mir sicher, dass Justin mich aufsuchen würde. Nicht unbedingt aus Neugier, sondern wegen seines Beschützerinstinkst. Und ich hatte ja keine Ahnung, ob mich Cooper und Burk im Moment
beobachteten oder ob sie Feierabend hatten, weil Justin an meiner Seite war.
Jessica sah wirklich hübsch aus. Ich mochte ihre mittellangen, braunen Haare und ihre schlanke Figur. Ihre grünen Augen waren das Erste, was ich an ihr registriert hatte.
Ich kam auf sie zu und mein Herz schlug vor Aufregung schneller.
Warum tu ich das eigentlich?
Ist das wirklich nötig?
Wird sie überhaupt mit mir reden wollen?
Unzählige Fragen gingen mir durch den Kopf und irgendwann war ich zum Punkt angelangt, wo ich mit dem Gedanken spielte, ob ich nicht lieber auf direktem Weg zu Clara
gehen sollte. Doch da war es schon zu spät. Grün bohrte sich in dunkleres Grün und das Blut schoss mir durch die Venen. Sie stoppte mitten im Satz, den sie mit ihrer Begleitung austauschte und ihr Mund öffnete sich vor Überraschung einen Spalt.
Sie flüsterte dem Jungen etwas zu, nur um wenig später auf mich zukommen zu können.
Es war so merkwürdig. Wir beide kannten uns kaum und dennoch lagen wir uns wenig später in den Armen, als würden wir beide eine jahrelange Freundschaft teilen.
Wahrscheinlich war es die Tragödie, das Leid, das uns miteinander verband.
"Wie schön es ist, dich zu sehen.", hörte ich sie sagen und dem weichen Unterton ihrer Stimme konnte ich abnehmen, das sie es auch wirklich so empfand.
Mir ging es nicht anders. Sie zu sehen füllte eine Lücke in mir, von der ich vor diesem Moment noch keine Kenntnis genommen hatte.

"Wenig später machten wir es uns halbwegs auf einer Bank gemütlich. Ihr Freund hat sich davor bei ihr verabschiedet. Es hat sich herausgestellt, dass er einen Motorradunfall hatte und sich dabei das Bein gebrochen hat. Ich erinnerte mich an meinen Unfall in Venedig und mir wurde warm ums Herz. Im nächsten Moment erwischte ich mich dabei, wie ich nach Justin Ausschau hielt. Vielleicht hätte ich doch lieber ihm und nicht David Bescheid sagen sollen.
"Und?" Jessica legte ihre Hand freundlich auf meinen Arm und strahlte mich an. Ihre gute Laune wirkte beinahe hypnotisierend auf mich. Wie hat sich ihr Leben in den letzten Monaten nur so drastisch ändern können?
"Warum bist du hier?"
"Oh." Ich entschied mich dafür, ihr nichts von Claras Unfall zu erzählen. Jessica kannte sie, aber ich bezweifelte, dass sie etwas von ihrem Unfall gehört hat, jetzt wo sie die Schule gewechselt hat. "Eine Freundin von mir hatte einen Autounfall. Nichts schlimmes. Sie wird wieder komplett gesund."
"Oh, nein." Sie verzog mitfühlend ihr Gesicht. "Wie konnte das denn passieren?"
Ich schüttelte verneinend den Kopf und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Es ist eine lange Geschichte, aber erzähl du doch mal. Du siehst toll aus. So erholt."
Ich hatte sie ganz anders in Erinnerung behalten. Selbst als ich sie mit Emily zusammen im Supermarkt getroffen hatte, waren ihre Augen leer und ihre Haare glanzlos.
Nach dem Tod ihres Bruders war sie ein Wrack und jetzt, wenige Monate später, schien sie ein neuer Mensch zu sein.
Ihr breites Lächeln war ansteckend und ich war furchtbar neidisch auf ihr schönes Haar. Ich spielte schon länger mit dem Gedanken, mir die Haare kurz zu schneiden, doch seitdem ich mit Justin zusammen war habe ich nicht mehr daran gedacht. Ich wusste, wie vernarrt er in meine langen Haare war.
"Ja, es geht mir auch schon wieder viel, viel besser. Selbst Jason sagt das. Ich weiß immer noch nicht, wie ich dir dafür danken soll, dass du ihn mir empfohlen hast."
"Er ist toll, nicht wahr?"
"Ja.", stimmte sie mir innerhalb von Sekundenbruchteilen zu. "Und so gut aussehend."
Ihr Mund war leicht geöffnet und sie zwinkerte mir zu, was mich zum Lachen brachte. "Er ist vergeben."
"Ich doch auch.", erwiderte sie und ihre Augen begangen bei dem Gedanken zu funkeln.
"Und ihr gebt wirklich ein tolles Paar ab." Meine kleine Schmeichelei löste den Wunsch in ihr aus, mir jedes Detail von ihrer Liebesromanze zu erzählen. Minutenlang saß ich da und genoss es ihr dabei zuzusehen, wie sie sich an ihrem eigenen Glück erfreute.
Sie lernte Marc auf ihrer Privatschule kennen. Er war eine Stufe über ihr und hat ihr geholfen in der Schule zurechtzukommen und seitdem sind sich ihre Wege ständig begegnet, bis er sie Wochen später auf ein Date eingeladen hat. "Und seitdem läuft es nur noch bergauf."
"Das freut mich wirklich für dich."
"Ja." Ihr sanften Lächeln wurde wenige Sekunden später dünner, bis es schließlich ganz verblasste. Ehe ich anchfragen konnte, gab sie mir schon eine Antwort auf meine Fragen. "Selbst als er gemerkt hat, wie verkorkst meine Familie ist, ist er nicht gegangen."
"Hast du ihm von Spencer erzählt?", fragte ich und als ich es ausgesprochen hatte, wollte ich es schon wieder zurück nehmen. Begab ich mich vielleicht auf dünnes Eis?
"Ja, es hat sich ein bisschen in der Schule rumgesprochen." Sie kratzte sich nachdenklich am Nasenflügel und ich schüttelte verständnislos den Kopf. Schulen waren schon immer das Zentrum des Klatsch und Tratsch. "Und dann musste ich es ihm erzählen. Jason hat mir auch dazu geraten und mir die Angst genommen. Und im Endeffekt habe ich mir die ganze Zeit über umsonst Sorgen gemacht. Marc hatte Verständnis dafür, er konnte meine familiäre Situation besser verstehen. Er hat wirklich besser reagiert, als ich es mir in meinen Träumen hätte ausmalen können."
So wie sie ihre Situation schilderte, erinnerte ich mich an eine Lage, in der ich vor wenigen Monaten auch gesteckt hatte. Wo es noch darum ging, wie ich Justin von meinem Missbrauch erzählen sollte. Damals hatte ich solch eine Angst vor seiner Reaktion gehabt und das, wie sich heraus stellte, völlig unbegründet.
"Das einzige, was er nicht verstehen konnte war, dass das Verfahren gegen den Täter eingestellt wurde."
"Wie bitte?", sprudelte es aus mir heraus. Was hatte sie gerade gesagt?
"Ja." Sie nickte und unterstützte damit die Aussage, die ich immer noch nicht ganz begreifen konnte. "Du wusstest das nicht, oder?"
Ihr Blick war ausdruckslos, als sie mir eindringlich in die Augen guckte. Als ich bemerkte, dass mir der Mund offen stand und ich mich zu ihr vorgebeugt hatte, setzte ich mich wieder aufrecht hin und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. "Nein.", begann ich zu stottern. "Ich hatte keine Ahnung."
Woher sollte ich das wissen? Justin hat es mir nie gesagt...Wusste er es überhaupt? Oh Gott, ich hatte tatsächlich keine Ahnung. Wie habe ich nur den Mord an Spencer vergessen können?
"Ist schon okay, Alison." Sie legte mir ihre Hand auf das Bein und ich war völlig überrascht von dieser Geste. Wie konnte sie das nur okay finden? "Am Tatort wurde nichts gefunden, keine Fußabdrücke, keine Fingerspuren, keine fremde DNA. Das FBI hat die Familie und Freunde der Opfer, also der Vergewaltigungsopfer von Spencer, natürlich zuerst verdächtig, aber im Endeffekt haben sie nichts gegen irgendjemanden von ihnen in der Hand. Und wer weiß." Sie verdrehte die Augen. "Spencer war ein furchtbarer Mensch. Es gab bestimmt so einige, die ihn tot sehen wollten. Es muss nicht unbedingt heißen, dass es Angehörige der Mädchen waren, die er vergewaltigt hat."
Nein, aber es war ein Angehöriger des Mädchens, das er versucht hatte zu vergewaltigen.
Bei dem Gedanken wurde mir schlecht. Ich saß neben dem Mädchen, dessen Bruder versucht hat mich zu vergewaltigen.
Aber nicht nur das.
Ich saß neben dem Mädchen, dessen Bruder von meinem Freund getötet wurde.
Und Letzteres war sogar noch viel Schrecklicher.
"Und das FBI ermittelt jetzt überhaupt nicht mehr?"
"Der Fall wurde an das LAPD weitergegeben. Das FBI kümmert sich ja normalerweise nicht um solche Fälle. Es ist zum Beispiel immer noch dabei die Attentäter der Diskothek in Silver Lake zu finden. Ist doch verständlich, oder nicht? Schließlich sind an dem Abend so viele Menschen gestorben."
Mir schnürte sich mein Hals zu. Meine Mutter ist mit dem Fall so vertraut, dass ich wissen müsste, dass das FBI auf Hochtouren arbeitet, um die Attentäter ausfindig zu machen. Warum erschütterte mich diese Nachricht dann noch so?
Möglicherweise lag es daran, dass ich dem Thema immer aus dem Weg gegangen bin. Selten habe ich meiner Mom diesbezüglich Fragen gestellt und noch seltener hat sie offen mit mir darüber geredet.
"Alles okay?"
Ich blickte in besorgte, grüne Augen und nickte, während ich schluckte, um den Kloß in meinem Hals wegzubekommen. "Ja, es ist nur so grausam."
"Was sich hier alles abspielt, meinst du?" Sie nickte mehrmals. "Ja, das ist wahr. Noch schlimmer ist es, dass die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden."
Ich erinnerte mich an ihre letzten Worte, die mich so erstaunt hatten. Damals hat sie gesagt, dass es ihr egal ist, ob der Mörder ihres Bruders gefasst wird oder nicht. Sie hat gesagt, dass sie ihn nicht hassen kann, weil sie weiß, wie schrecklich ihr Bruder war.
Hatte sich ihre Meinung geändert?
"Hat sich deine Meinung wegen der-"
"Nein.", beantwortete sie mir meine Frage, ehe ich sie zu Ende führen konnte. "Ich bin mir immer noch sicher, dass er einen Grund hatte. Mein Bruder hätte noch so viele Leben zerstört, wenn ihm niemand ein Ende gesetzt hätte." Sie sah mich mit einem Blick an, den ich sofort deuten konnte. Er schrie Wörter wie "Dein Leben hätte er auch zerstört.". Und das hat er wirklich fast geschafft. Ein zweites Mal hätte ich den Albtraum nicht überlegen können. Das wäre kein Leben mehr gewesen, sondern die Hölle auf Erden.
"Was denkst du darüber?", fragte sie langsam und ich konnte die Vorsicht in ihrer Stimme raushören, mit der sie diese Worte über ihre Lippen brachte. "Immerhin-"
"Hat er mir eine Vergewaltigung erspart?"
Sie riss ihre Augen auf, doch es war genau das, was sie sagen wollte.
Schließlich bestätigte sie meine Vermutung mit einem späteren Nicken.
"Alison!"
Mein Blick huschte in die Richtung, aus der ich meinen Namen gehört habe. Justin kam mit großen Schritten auf mich zu und ich schnappte nach Luft.
Gespräch beendet.
"Wo-", begann er, doch dann warf er einen Blick auf das Mädchen neben mir und verwarf seine Gedanken. Er runzelte die Stirn, ehe er vor mir stehen blieb und nachdenklich zwischen mir und Jessica hin und her sah.
"Justin.", stellte er sich in der nächsten Sekunde vor, hielt ihr seine Hand hin und mir blieb die Spucke weg. War das nur eines seiner Spielchen?
"Ja, ich weiß." Sie schmunzelte, als sie seine Hand schüttelte und ergänzte: "Jessica."
"Wir haben nur ein bisschen geredet.", versuchte ich die Situation aufzuklären, bevor es noch komischer werden konnte. Ich stand von der Bank auf und hakte mich bei Justin ein, weil er seine Hände wieder in seine Hosentaschen gesteckt hatte.
"Ich weiß." Seine Augen sahen in meine und ich konnte deren Ausdruck nicht deuten. War er sauer, verwirrt oder verständnisvoll? "Aber David ruft nach dir. Es scheint wichtig zu sein."
Ich wusste, dass er log, nur um mich von Jessica wegzubringen. Ich wandte meinen Blick von ihm ab und beobachtete, wie Jessica aufstand und ihre Hose richtete, indem sie diese hochzog. "Ich werde dann auch wieder zu Marc gehen." Sie lächelte so nett, dass es unmöglich war, ihr dieselbe Höflichkeit zurück zu geben.
Ich löste mich kurz von Justin um sie umarmen zu können, weil es das mindeste war, was ich tun konnte. Sie war so ein starkes, hübsches Mädchen. Viel, viel stärker, als ich es damals war und jetzt bin.
"Bleib bitte so, wie du bist.", flüsterte ich ihr zu und als ich mich von ihr löste lag der tiefe Ausdruck Dankbarkeit in ihrem Gesicht. "Du bitte auch, Allie."

"Das ist seine Schwester, oder?" Justin legte seinen Arm um meine Taille, als wir auf das Krankenhaus zuliefen und ich ließ es geschehen, weil in dem Moment nichts so willkommen war wie seine Nähe.
"Ja." Ich erinnerte mich an mein Gespräch mit ihr zurück und brauchte die Antwort auf eine meiner Fragen. "Wusstest du, das die Ermittlungen gegen den Mörder eingestellt wurden?"
Ich sah zu ihm hoch, doch er erwiderte meinen Blick nicht. In dem Moment kannte ich die Antwort, noch bevor sie seinen Mund verlassen konnte.
"Ich bin davon ausgegangen.", sagte er, und erst als wir die Aufzüge erreicht hatten, schenkte er mir reinen Wein ein. "Es gibt nichts, was die Polizei hätte finden können. Und ohne irgendwelche Beweise kann sie schlecht ermitteln."
"Okay." Ich konnte dazu nichts sagen. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Mein Kopf war leer. Oder einfach zu voll.
Er sah mich eindringlich an, als wir vor den Aufzügen zum Stehen kamen und vor verschlossenen Türen warteten.
"Willst du mir erzählen, worüber ihr geredet habt?", fragte er und ich liebte ihn, weil er mir die Option ließ.
"Es tat mir so gut sie zu sehen, Justin.", begann ich ihm mein Herz auszuschütten, weil er mich in Vergangenheit immer so gut verstanden hat, selbst wenn ich mich selbst nicht verstehen konnte. "Mir kommt es so vor, als würde sie jetzt, wo ihr Bruder tot ist, ein besseres Leben führen."
"Sie hat damals in Angst gelebt, Alison. Sie wusste, zu was er fähig war und sie hatte Angst, dass er auch ihr irgendwann etwas antun könnte."
"Glaubst du?"
"Alison, er hat es genossen unschuldigen Mädchen Schmerzen zuzufügen. Er war narzistisch. Er dachte, er wäre Gott. Und er kannte keine Grenzen. Wenn er seine Liste langsam ab gearbeitet hätte, dann hätte er sich möglicherweise seine Schwester vorgenommen." Er beugte sich zu mir vor und legte mir seine Hand auf meine kühle, blasse Wange. "Ich versuchte nicht meine Tat zu rechtfertigen. Ich weiß, dass du es nicht verstehst. Aber führ dir das Mal zu Augen."
"Kein Mensch ist böse geboren."
"Seine Eltern haben in seiner Erziehung versagt. Er hat nie eine richtige Bezugsperson gehabt, die Nannys gewechselt wie Unterhosen. Er hat wenig Liebe abbekommen, ja. Aber jeder Mensch sollte seine Triebe kontrollieren können."
Ich verstand seinen Punkt. Keine Frage. Doch da war etwas, an das ich mich festklammerte. "Man kann von jemandem, der nie Liebe bekommen hat, nicht erwarten, Liebe geben zu können."
Er runzelte die Stirn. "Du sagst also, dass er nichts für seine Taten kann?"
"Nein, das will ich damit nicht sagen. Wir wissen aber nicht, wer er war und was ihn zu so einem Menschen gemacht hat."
"Alison." Seine Stimme erhob sich und er schloss die Augen, als er auch seine andere Hand um mein Gesicht legte. "Bei Gott, ich liebe dich so sehr. Du hast immer das Gute in meinem Abgefuckten Ich gesehen, aber du musst aufhören die Grausamkeiten mancher Dinge erklären zu wollen. Kein Mensch wird schlecht geboren, aber jeder darf sich aussuchen, wie er sein Leben führen will. Ob gut oder schlecht. Und Spencer hat sich für Letzteres entschieden."

"Ist alles okay, Megan?"
Schon seit fünf Minuten stand sie still schweigend da und blickte auf Clara herab. In ihrem Blick lag der Ausdruck tiefes Entsetzen. Ich hätte es kommen sehen müssen.
"Was ist mit ihren Haaren?", war das erste, was sie sagen konnte. Ich folgte ihrem Blick, bis er bei dem Verband hängen blieb, der um Claras Kopf gebunden war.
"Ihre Schädeldecke musste geöffnet werden und dafür mussten sie sie zuerst kahl rasieren."
"Oh, Gott.", keuchte sie und ich wusste, wie sie sich fühlte. Ich konnte immer noch nicht begreifen, das es so gekommen ist. Dass es ausgerechnet sie treffen musste.
"Wie konnte er nur so etwas machen?" Ihre Stimme brach ab und sie unterdrückte ein Schluchzen. "Sie hätte sterben können und er kannte sie nicht einmal."
"Es hilft niemandem, wenn du an so etwas denkst.", sagte ich und war mir unschlüssig, ob ich sie nicht in den Arm nehmen sollte. "Und du solltest nicht deshalb weinen, Megan. Es ist nicht deine Schuld."
Sie wischte sich die Tränen, die sich gelöst hatten und über ihre Wange rollten, mit dem Handrücken weg. "Er hätte es bestimmt nicht getan, wenn ich ihn nicht verlassen hätte."
Sie registrierte meinen ratlosen Blick und das es mir schwer fiel, etwas dazu zu sagen, weil mir ihr Gedanke nicht schlüssig war.
"Wenn ich bei ihm geblieben wäre, dann hätte er niemals so eine Dummheit gemacht. Wenn ich-"
"Sag sowas nicht." Mit entschlossenen Schritten ging ich auf sie zu und legte ihr meine Hände auf die Schultern. Ich nahm Blickkontakt mit ihr auf und erkannte erst dann, dass ihre Schuldgefühle ins Unermessliche reichten. "Justin hätte Ted damals ein besserer Freund sein und nicht mit dir schlafen sollen. Und trotzdem ist es nicht seine Schuld, dass Ted diese Taten begannen hat. Du hättest dich nicht aus Eifersucht und Neid mit Ted verbinden sollen und trotzdem ist es nicht deine Schuld, dass Clara nun hier liegt. Kein Mensch wird gut geboren, aber jeder darf sich aussuchen, wie er sein Leben führen will. Ob gut oder schlecht. Und Ted hat sich für Letzteres entschieden."

Ich schloss für einen Bruchteil der Sekunde meine Augen und erlitt den Schock meines Lebens, als ich Nässe auf meinem Gesicht spürte.
Kurz nachdem ich registriert hatte, dass ich in einer mit heißem Wasser gefüllten Badewanne eingeschlafen war, hörte ich Justins lautes Lachen.
"Du hättest dein Gesicht sehen sollen." Er hielt sich am Waschbecken fest, als ihn einer der lautesten Lachanfälle erschütterte, die ich in meinem ganzen Leben gehört hatte. "Oh mein Gott, ich kann nicht mehr."
Es war so merkwürdig ihn so zu sehen, sein lautes Lachen zu hören, nachdem was in den letzten Tagen passiert ist, das ich mir von ganzem Herzen wünschte, diesen Moment festhalten zu können. Da ich das nicht konnte, genoss ich diese Sekunden voller Freude und konnte nichts dagegen tun, dass er mich mit seinem Lachen ansteckte.
"Warum habe ich das nicht aufgenommen?"
"Weil ich dich sonst umgebracht hätte."
Er grinste mich an und ich wünschte mir in dem Moment, das er zu mir in die Badewanne steigt.
"Bist du gleich fertig?"
"Kommt drauf an, ob du mir Gesellschaft leistest oder nicht."
Nachdenklich runzelte er die Stirn und als er den Mund öffnete, grauste es mir vor seiner Antwort.
Unter normalen Umständen wäre er seine Kleidung innerhalb von zwei Sekunden losgeworden. Aber es waren leider keine normalen Umstände. Mir war bewusst, dass ich ihm noch von den gelben Rosen erzählen musste und ich bezweifelte, dass er es vergessen hatte.
Als er dann also vor die Badewanne tritt und mir die Hand hin hielt, damit er mir beim Aussteigen helfen kann, war ich nicht verwundert.
Er guckte mir nicht mal auf meine Oberweite. Meine Nervosität stieg.
Ich wickelte meinen Körper in ein Handtuch und band mir anschließend einen neuen Dutt.
"Es tut mir Leid." Ich sah ihn im Spiegel an und wusste seinen eindringlichen Blick nicht zu deuten. "Ich hätte dir das mit dem Blumenstrauß schon viel früher erzählen können."
"Weißt du, was ich einfach nicht begreifen kann?", fragte er und ich wusste, das er mir die Frage bald schon beantworten würde. "Wie du dich immer und immer wieder dazu entschließt Dinge vor mir zu verheimlichen. Ich kann das einfach nicht verstehen."
Die Enttäuschung, die in seiner Stimme mit klang machte mich furchtbar traurig.
"Ich hätte es nicht geheim halten sollen, ich weiß. Es-"
"Ach, weißt du es wirklich? Denn das sagst du jedes Mal und dann tust du es immer und immer wieder."
Wie konnte ich mich nur rechtfertigen, wenn er doch Recht hatte? Ich hätte ihm von Anfang an die Wahrheit sagen sollen, was habe ich mir nur dabei gedacht?
Dass ich etwa alleine damit fertig werde? Dass die Drohung nichts zu bedeuten hatte?
"Ich bin dir nicht böse. Ich meine, das war ich, aber jetzt will ich es einfach nur verstehen." Er legte mir liebevoll seine Hand ums Kinn und hob meinen Kopf an, sodass ich gezwungen war ihn anzusehen. Er begegnete mir mit so viel Verständnis, das es für mich schwer war, ihm nicht heulend um den Hals zu fallen.
"Ich kann es mir selber nicht erklären.", begann ich und schluckte den Kloß in meinem Hals herunter, der sich gebildet hatte, weil ich meine Tränen unterdrückte. "Als ich den ersten Strauß gelber Rosen bekommen habe, dachte ich, das wäre nur ein Zufall. Dann habe ich das Gedicht-"
Mir fiel ein, dass er zwar etwas von den gelben Rosen wusste, er aber nicht ahnen konnte, dass in der Grußkarte Zeilen geschrieben waren, die wir als Drohung zu verstehen hatten.
"Welches Gedicht?", löste mich Justin von meinen Gedanken und seinem Stirnrunzeln zu urteilen, fühlte er jetzt nicht nur Verständnis für mich.

"Nicht alle Frauen sind Engel
Und solche Frauen durch Vernunft zu zwingen
Wird nicht dem Weisesten gelingen
Sie lassen lieber schmeichelnd sich betören,
Als auf die Stimme der Vernunft zu hören.", lies er vor, während er die Karte mit seinen Adleraugen beäugte. Den Blumenstrauß hatte ich an demselben Abend weggeworfen, aber die Karte hatte ich behalten, damit ich sie irgendwann Justin zeigen konnte. Und das Irgendwann war zum Jetzt geworden.
"Das Gedicht ist von einem deutschen Schriftsteller. Ich konnte nicht viel darüber im Internet finden."
"Ja, das ist auch gar nicht nötig.", sagte Justin und als Zeichen seiner Verzweiflung atmete er tief durch. "Es ist offensichtlich, was er damit sagen will."
"Ist es seine Schrift?"
Ich wusste, dass sie es war.
"Ja, definitiv." Er verstaute die Karte in seiner Hosentasche und sah mich endlich an. Unter seinem strengen Blickte fühlte ich mich minderwertig, aber ich hatte auch kein Recht, mich anders zu fühlen. "Das war also der erste Blumenstrauß?"
Ich nickte.
"Und wann hast du ihn bekommen?"
"Als du diese Grippe hattest."
Er runzelte nachdenklich die Stirn. "Deshalb hattest du den Albtraum.", stellte er leise fest.
Ich nickte ein zweites Mal und versuchte nicht an diesen Traum zu denken, in dem ich angekettet und verletzt in einem Keller festgehalten wurde.
"Alison." Er legte beide Hände um meine Kieferknochen und sah mich befangen an. "Du hättest es mir erzählen können, an demselben Abend. Ich hätte es verstanden. Ich hätte dir helfen können."
Seine Daumen strichen vorsichtig über meine Wange und ich blickte gequält in seine Augen. "Ich dachte, es hätte nicht viel zu bedeuten. Ich hätte nicht gedacht, dass er nicht aufhört mir diese Blumen zu schicken."
"Ich kenne Ted besser als du. Ich hätte dir sagen können, dass er nicht damit aufhören wird."
Ich nickte. "Es tut mir Leid. Ich hätte es dir sagen sollen."
"Tut es dir wirklich Leid?"
Ob es mir wirklich Leid tat? Vielleicht hätte ich es ihm sagen sollen. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht sollte ich nicht immer alles für mich behalten.
Aber ich war auch der Meinung, dass es nichts an der Situation hätte ändern können. Justin war an dem Tag so krank gewesen. Seine Gedanken kreisten Tag und Nacht um Ted und noch viel mehr darum, wie er ihn finden könnte.
Hätte es ihm also etwas gebracht, wenn ich ihm offenbart hätte, dass er mir gelbe Rosen schickt und darin so ein blödes Gedicht versteckt?
"Justin!" Ein lautes Klopfen an der Tür sorgte dafür, dass Justin und ich uns voneinander lösten. Blanke Panik beherrschte meinen Körper, als die Tür aufgerissen wurde und James ins Zimmer stolperte. Sein Gesicht war rot und er keuchte vor Anstrengung. So energiegeladen habe ich ihn noch nie gesehen. "Ich habe ihn.", begann er zu sprechen und fixierte Justin mit seinem Blick. "Auf den Überwachungskameras. Ich habe ihn gefunden!"

Die ganze Horde hatte sich im Keller um James eigenes kleines IT-Reich versammelt und wartete darauf, dass James und alle reinen Wein einschenkt. "Da auf dem Blumenstrauß kein einziger Hinweis auf den Blumenladen war, musste ich mir irgendwie anders aushelfen. Megan hat uns vor ein paar Tagen erzählt, wo die beiden sich immer getroffen haben und so konnten wir den Radius seines Wohnsitzes um einiges reduzieren. Mit dieser Information habe ich alle Blumenläden in dem Radius ausfindig machen können. Es waren zehn Stück. Neun davon hatten eine Internetwebsite, nur ein Laden nicht, weshalb ich angenommen habe, dass Ted sich den kleinsten Blumenladen ausgesucht hatte. Während die Hälfte von euch im Krankenhaus war und die andere Hälfte von euch das NBA Spiel geguckt hat, bin ich zu diesem Blumenladen gefahren, weil ich etwas über deren Überwachungssystem und Computer herausfinden musste. Wenig später bin ich mit der Seriennummer und mit dem Produktcode des Überwachungssystem nach Hause gefahren, und mit der Handynummer der Blumenverkäuferin, was aber eine andere Geschichte ist, und habe mich wieder an die Arbeit gemacht. Ich habe mich in das System hacken können und habe die letzte Stunde damit verbracht verzweifelte Ehemänner ein und aus gehen zu sehen, bis das kam."
James drückte auf seine Tastatur und unzählig viele Augenpaare blickten auf den größten der vielen Computermonitore.
Und da war er.
Mein Herz begann zu rasen und ich griff reflexartig nach Justins Hand. In diesem Moment hatten wir alle etwas gemeinsam. Jeder von uns starrte auf das Bild von einem Mann, der sich die Haare blond gefärbt hatte, nur um von niemandem von uns entdeckt zu werden. Das Bild von einem Mann, der einen Blumenstrauß gelber Rosen in der Hand hält. Das Bild von einem Mann, dessen Blick voller Neid und Hass war.
Ich blickte in die Augen dieses Mannes und sollte Angst und Furcht empfinden, aber das einzige, das ich spüren konnte war das Gefühl von Mitleid.
Er war ganz alleine, während ich in einem Raum voller Menschen stand, die sich um mich sorgten und auf mich aufpassten.
Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie schlimm es ihm gehen musste. Selbst wenn ihn die Nachricht von Claras Zustand mit Freude erfüllt hat, weil er wissen musste, dass ich furchtbar an der Situation litt, wusste er tief im Inneren ganz genau, was er war.
Unsicher, verletzt, verbittert und unglücklich.
"James, ich weiß gar nicht, w-"
"Wie du mir danken sollst?", beendete James Justins Satz und warf ihm ein vertrautes Lächeln zu, das auch mir nahe ging. "Dank mir erst, nachdem du das hier gesehen hast."
Das, was James für mich und Justin getan hat, war unglaublich. Ich würde ewig in seiner Schuld stehen, weshalb es mir schwer fiel zu glauben, dass er uns noch etwas Erfreudigeres zu offenbaren hatte.
"Wie ihr alle sehen könnt ist die Überwachungskamera genau über der Kasse befestigt worden. Wenn ich die Aufnahmen also weiterlaufen lasse." James drückte auf einen Knopf der Tastatur und das Bild wurde zu einem Video. "dann sehen wir, wie sich Ted umdreht und den Ausgang zusteuert. Seht ihr dieses Auto dort?" Er pausierte, als Ted gerade den Laden verlassen hatte und zeigte mit seinem Zeigefinger auf ein Auto, das gerade noch so im Fokus der Kamera war. "Das ist seins. Das wussten wir auch schon, jetzt kommt aber noch etwas, das wir nicht wussten." James ließ das Schwarz-Weiß-Video weiterlaufen und wir alle konnten beobachten, wie Ted in den Gebrauchtwagen stieg, bevor er sich aus der seitlichen Parklücke zwängte. "Da sieht man das Nummernschild." Er pausierte das Video wieder und wie auf Kommando kamen wir alle dem Bildschirm näher. Lag es nur an meinen Augen oder waren die Buchstaben und Ziffern auf dem Nummernschild völlig verschwommen?
"Ich weiß, man erkennt nicht wirklich viel, aber ich muss es noch durch ein Programm ziehen, das das alles um einiges schärfer machen wird." James drehte sich in seinem Schreibtischstuhl wieder zu uns und suchte Justins Blick auf. Ich hielt immer noch so stark seine Hand und konnte sie nicht loslassen.
"Das wird aber sicherlich eine halbe Stunde dauern."
Eine ganze halbe Stunde dauerte es, mich bei James zu bedanken. Ich hatte ihn bestimmt zehn mal umarmt, ihn fünf mal auf die Wange geküsst und sicherlich einhundert mal Danke gesagt. Und trotzdem brachten diese Gesten nicht annäherend zum Ausdruck, wie dankbar ich ihm war.
"Gott, Alison. Hör auf dich zu bedanken.", sagte er irgendwann und wenn er nicht dieses sanfte Lächeln auf den Lippen gehabt hätte, dann hätte man denken können, dass er wegen mir genervt war. "Das habe ich gerne gemacht. Außerdem will doch wirklich jeder von uns, dass dieser Albtraum irgendwann sein Hände hat."
"Immerhin wissen wir jetzt, das Ted kein blond steht.", sagte Ian und Megan und ich mussten widerwillig grinsen.
"Hatte er die Haare schon blond, als du noch mit ihm-"
"Nein.", unterbrach Megan Justin. "Sonst hätte ich das schon längst gesagt. Ich begreife es selber nicht, warum er das getan hat."
"Vielleicht dachte er, wir würden ihn so nicht wiedererkennen.", kam es von James, der sich wieder seinen Computern widmete. "Ich musste auch erst zweimal hinsehen, bevor ich ihn erkannt habe."
"Er ist vollkommen krank." Brian schüttelte den Kopf und hielt seine Arme vor der Brust verschränkt. "Wie konnte er nur zu so jemandem werden?"
Brian sprach eine Frage aus, auf die ich schon seit Wochen eine Antwort suchte. Ich schwieg, konnte mir keine Antwort auf diese Frage zusammenreimen und die anderen schienen mir nachzumachen.
"Ich will euch nicht zu nahe treten, Leute, aber ich brauche hier unten meine Ruhe, wenn ich das Kennzeichen binnen einer halben Stunde herausfinden soll.", kam es aus James Mund, der wie wild auf der Computertastatur herum tippte.
Nacheinander verschwanden alle aus dem schon fast gemütlichen Kellerraum, bis nur noch James, Justin und ich übrig blieben. Justin blickte in meine Richtung und seinem erwartungsvollen Blick nach zu urteilen verlangte er von mir, dass ich ebenfalls gehe.
"Ich warte dann oben auf dich.", sagte ich zu ihm und drehte den beiden dann den Rücken zu.
Als ich die Treppen hoch ging, vibrierte das Handy in der Tasche meiner Jogginghose.
Meine Mom rief mich an und ich hatte auch so eine Ahnung, warum sie das tat.
"Wann kommst du nach Hause?", fragte sie, nachdem ich sie mit einem "Hallo" begrüßt hatte. "Morgen ist Schule."
"Ja, ich weiß, Mom." Konnte ich tatsächlich noch von Justin verlangen, dass er mich nach Hause fährt? Mein heutiges Verhalten hatte ihn schon genug verärgert und jetzt war er mit anderen Dingen beschäftigt. Mit viel wichtigeren Dingen.
"Kannst du mich abholen?", fragte ich sie. "Justin kann mich nicht nach Hause fahren."
Ich tritt von einem Fuß auf den anderen, nachdem ich mich in Justins Zimmer wiedergefunden hatte.
"Klar, kann ich das." Ich hörte ihr Lachen auf der anderen Leitung und wurde neugierig.
"Was ist so lustig?"
"Du hast mich schon sehr, sehr lange um Nichts mehr gebeten. Es fühlt sich komisch an von dir gebraucht zu werden." Die Ironie in ihrer Stimme war nicht zu überhören und dennoch hatte ich Zweifel daran, dass sie wirklich nur scherzte.
"Es tut mir Leid. Wenn du willst, dann kannst du mich jetzt immer abholen."
Ich konnte sie schon praktisch grinsen spüren, was dasselbe in mir auslöste.
"Bis gleich, Süße.", kicherte sie. "Pack schon mal deine Sachen."

"James hat da was Gutes hinbekommen, oder?"
Ich zuckte vor Schreck zusammen und mein Herz begann schneller zu schlagen, bis ich dieser Stimme eine Person zuordnen konnte. Ich nahm mir meine Tasche vom Schreibtisch und setzte mich aufs Bett. "Ja, das ist unglaublich. Mir war gar nicht bewusst, dass er so etwas kann."
"Er hat Informatik studiert." Als wäre das eine Erklärung für James Können.
"Im Studium lernt man also, wie man sich in Überwachungssysteme hackt?"
Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln, das er jedoch umging.
"Wohin willst du?" Sein nachtragender Blick verfolgte mich. Was wenn er wütender auf mich wird, wenn er erfährt, das ich nach Hause will?
"Meine Mom wird mich gleich abholen. Ich will sie nicht schon wieder alleine lassen."
Er nickte leicht. Mehrmals. Als würde er darüber nachdenken. "Soll ich mitkommen?"
"Ach, nein, nein. Das brauchst du nicht. Ich weiß, dass du hier bleiben willst. Bei James. Jetzt wo er doch-"
"Ja, ich weiß.", unterbrach er mich und ich zog mich eingeschüchtert zurück. Die Luft zwischen uns war so dick, das ich das Gefühl hatte zu ersticken.
Warum kam mir dieses Gefühl inzwischen so bekannt vor? Ich habe lange nicht mehr in klarer, sauberer Luft frei atmen können.
"Bist du sauer auf mich?", traute ich mich endlich zu fragen, nachdem wir eine Minute in Stille gelebt hatten.
"Nein." Er schien gar nicht darüber nachdenken zu müssen. Seine Antwort überraschte mich. Möglicherweise ließ ich es mir auch anmerken. "Ich habe ein bisschen nachgedacht und ich weiß, warum du das tust."
Er setzte sich neben mich und ich verlagerte meine Position so, dass ich ihn besser angucken konnte. In dem Moment hoffte ich von ganzem Herzen, dass meine Mutter nicht schon losgefahren war.
"Ich kenne dich jetzt schon eine Weile und habe mittlerweile verstehen können, warum du gerne Sachen für dich behältst."
Ich sah ihn fragend an. Ich konnte mir ja nicht mal selber eine Antwort darauf geben, wie sollte er es dann tun?
"Du denkst, dass wenn über etwas nicht geredet wird, diese Sache nicht existiert. Du verleugnest sie, du willst es nicht wahrhaben und deshalb behältst du es für dich. Denn sobald du es mir erzählst, wirst du mit der Sache konfrontiert und das könntest du in gewisser Hinsicht nicht ertragen.", sprach er und seine Ansicht ließ eine Konfrontation nicht zu verhindern. "Irgendwann zeigt sich das Aufstauen deiner Probleme jedoch in körperlichem Leiden, deshalb auch die Albträume."
Er strich mir sanft über meine Haare, als ich den Blick von ihm abwandte und zu Boden blickte. Diese Situation war mir so unangenehm. Wie konnte es sein, dass er mich besser kannte, als ich selbst? Dass er eine Erklärung auf mein falsches und verlogenes Verhalten finden konnte, die mich wie ein Opfer aussehen ließ?
"Ich weiß, dass es falsch von mir war, Justin. Du kannst also wütend auf mich sein. Ich verstehe das schon."
"Ich bin es nicht, Allie, und versuch meine Meinung nicht zu ändern, denn das kannst du nicht." Er legte seinen Arm um meine Schulter und drückte mich an sich, bevor er einen Kuss auf mein Haar hauchte. Ich dachte, ich müsste in Tränen ausbrechen. "Du solltest nur wissen, dass ich anscheinend alles irgendwie herausbekomme. Deshalb bringt dir das Verheimlichen nichts mehr."
"Schade.", sagte ich und musste lächeln, als ich sein Lachen hören durfte.
"Gibt es da also etwas, was du mir vielleicht noch erzählen willst? Ich verspreche dir, nicht sauer auf dich zu sein. Jedes Detaill kann mir und James helfen, Allie."
Ich öffnete den Mund um seine Frage zu verneinen, da tritt das Bild meiner Mutter vor meine Augen, wie sie mir sagt, dass wir am Donnerstag nach New York fliegen, wenn Clara bis dahin aufwacht.
Ich vergesse für einige Sekunden zu atmen und habe in der nächsten Sekunde mit furchtbaren Schuldgefühlen zu kämpfen.
"Nein.", stotterte ich. Wenn es so weit sein sollte, dann würde er es erfahren. Noch ist Clara nicht aufgewacht und die Nachricht würde ihn nur verärgern und deprimieren. Gerade verstanden wir uns doch wieder gut und liebten uns so sehr. Das wollte ich nicht zerstören. Nicht heute.
"Da ist nichts mehr, was du nicht weißt."




Three days left


"Kann ich mich zu dir setzen?"
Ich blickte von meinen Unterlagen auf und sah in das Gesicht von Lucie, einem Mädchen aus meinem Mathekurs.
"Mein Tisch fehlt irgendwie."
"Da sitzt eigentlich Cla-", bevor ich den Satz zu Ende führen konnte, realisierte ich die Absurdität.
"Natürlich. Setz dich ruhig."
Sie schenkte mir ein kleines, bemitleidendes Lächeln, das ich schon den ganzen Tag in der Schule reingedrückt bekommen habe.
Ich dachte, dass ich hier von Claras Zustand abgelenkt werden würde, aber ich sah jeden tuscheln und flüstern, bevor ich Claras Namen raushören konnte. Jeder fragte mich nach ihr und danach, wann sie aufwachen würde.
Konnte mir den niemand ansehen, dass ich nicht darüber reden wollte?
"Wer fehlt heute?" Mrs. Anderson sah sich im Raum um und als sich unsere Blicke begegneten, wollte ich Claras Namen sagen, aber sie nickte nur verständlich, weshalb ich meinen Mund wieder schloss. Unter den Lehrern hat es sich anscheinend auch rumgesprochen.
Während wir die Analysis durchnahmen und gerade in Einzelarbeit Aufgaben im Buch bearbeiten mussten, wurde ich von einem lauten Klingeln aus meinen Überlegungen gerissen. Ich wusste sofort, dass es nicht die Klingel am Ende der Stunde sein konnte. Es war die Klingel, die eine Durchsage des Direktors ankündigte, weshalb jeder von seinen Materialien auf sah und die Ohren spitzte.
"Alison Steal bitte in mein Büro. Ich wiederhole: Alison Steal bitte in mein Büro. Ende der Durchsage."
Sämtliche Augenpaare schossen in meine Richtung und ich spürte, wie ich vor Aufregung und Überraschung rot anlief.
Warum wollte mich der Direktor sprechen? Ich hatte nie etwas Unerlaubtes getan...bis auf die paar Stunde, die ich auf Justins Gedränge geschwänzt habe, aber selbst die habe ich entschuldigen lassen.
Mein Herz pochte und pochte, als meine Lehrerin zu mir sagte: "Es ist bestimmt nichts Schlimmes, Alison."
Und da war er wieder, dieser mitfühlende Blick, dieser "Das arme Mädchen" Ausdruck und ich ahnte, was sie mir damit sagen wollte.
In meinem Brustbereich schmerzte es plötzlich so sehr, dass ich das Gesicht verziehen musste, weil es sich so anfühlte wie tausend kleine Messer, die meine Brust durchbohrten.
Auf dem Weg in das Büro des Direktors sah ich alles in einem Tunnelblick. Ich wusste nicht, wo ich war, wo ich hingehe geschweige denn wie ich heiße. Ich wurde geleitet von der Angst, die sich bis in meine Venen gefressen hatte und all das Blut aus mir heraus zog. Es war ein Wunder, dass ich mich irgendwann vor der richtigen Tür wiederfand, doch nachdem ich sie geöffnet hatte, ignorierte ich die Sekräterin, die auf mich zu kam, um mich ins Büro zu bringen. Meine Füße leiteten mich blind in den gesuchten Raum und keine Sekunde später blickten bekannte, grüne Augen in meine Richtung. Er kam auf mich zu und ich erlitt eine Schockstarre.
"Nein, es ist nicht das, was du denkst." David legte seine Hände auf meine Schultern und versuchte meinen Blick aufzufangen, aber ich gab mich meinem Schluchzen hin.
Für mehrere Minuten habe ich gedacht, dass ich meine beste Freundin für immer verloren habe.
Ich habe Dinge empfunden, deren Existenz ich mir nicht mal bewusst war.
"Wie kannst du mir so einen Schrecken einjagen.", schluchzte ich und schlug vor Wut mit beiden Händen auf seine Brust ein. "Ich dachte, sie wäre tot."
David hielt meine Handgelenke fest und zwang mich in seine Augen zu sehen.
"Hörst du mir mal zu?" Ich erkannte das Zusammenspiel verschiedener Glücksgefühle in seinem Ausdruck und erstickte mein Weinen instinktiv.
In dem Moment realisierte ich, dass ich nicht gerufen wurde, weil Clara gestorben war.
Ich wurde gerufen, weil sie aufgewacht war.


Battlefield! -Justin Bieber Fanfiction Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt