SIEBEN

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Einen Augenblick später kam sie zu mir, stellte 2 Gläser und 1 Flasche Wasser auf den Glastisch, schenkte uns ein und sah mich erwartungsvoll lächelnd an. Nervös nestelte ich an meinem Shirt herum, begann zu zittern, rieb meine Hände an meiner Jeans hin und her, es fiel mir so schwer, davon zu erzählen. Die Gedanken sprangen wild in meinem Kopf hin und her und keiner wollte den Anfang machen. Ich fühlte mich so hilflos in diesem Moment, obwohl ich endlich mal die Chance hatte, alles loszuwerden. Hart schluckte ich ein paar Mal und holte nochmal tief Luft, bevor die ersten Worte meinen Mund verließen.

Ich erzählte ihr von Basti, was wir zusammen für eine schöne Zeit hatten, dass er mein bester Freund gewesen ist, was wir alles zusammen bzw auch mit den anderen erlebt haben, wie glücklich ich zu der Zeit war. Aber auch von dem verhängnisvollen Tag, als er in meinen Armen starb und wie danach unsere ganze Clique nach und nach daran kaputt ging und letztendlich alle tot waren und wie allein ich plötzlich wieder war. Aufmerksam hörte sie mir zu, stellte keine Zwischenfragen, war einfach nur da. Ich war selber über mich erstaunt, dass ich das gerade so klar erzählen konnte, ohne dass mich die Emotionen überfielen.

Kurz sah ich ihr in die Augen, während ich erzählt hatte, hatte ich meinen Blick versucht, ins Leere an ihr vorbei zu richten, weil es mir sonst nicht möglich gewesen wäre, zu sprechen. Alles was ich sehen konnte, war eine Mischung aus Betroffenheit und Erstaunen. „Und was war das, was Du heute angedeutet hast?" fragte sie mich leise in einem kurzen Moment der Stille meinerseits. „Das, das war die Hölle" antwortete ich ihr. „Inwiefern? Wer hat Dir das angetan?" kam erneut eine Frage von ihr auf. „Das waren meine Klassenkameraden, damals in der Schule. Ich war da unter anderem das Opfer schlechthin und die Lehrer, naja, niemand interessierte sich dort für mich. Weißt Du, sie hatten einen Riesenspaß daran, mich zum Beispiel in Mülltonnen zu stecken, bevorzugt in die Biotonne.

Sie nutzten wirklich jede Möglichkeit, die sie erkannten, um mich zu demütigen und zu erniedrigen. Und wenn das nicht genug war, oder sie besonders grausam sein wollten, verprügelten sie mich halt so richtig. Manche Tage konnte ich mich nicht mal mehr bewegen oder gehen." Traurig sah ich sie an, denn mittlerweile hatten sich die Tränen doch einen Weg gesucht. „Das tut mir so furchtbar leid, wirklich" sprach sie leise zu mir und gab mir ein Taschentuch. „Hätte ich Dich damals schon gekannt, ich hätte Dir geholfen, dass kannst Du mir glauben" ergänzte sie. „Das ist unmöglich von den Schülern, aber ganz besonders von den Lehrern, ich kann es nicht glauben, dass es soviel Ignoranz seitens der Schule gab" antwortete sie mir erbost.

Ich sah in ihren Augen, dass sie selber Mühe hatte, ihre Emotionen im Zaum zu halten und ich hatte wirklich den Eindruck, dass sie es durchaus auch so meinte. „Das ist noch nicht alles" sagte ich stockend zu ihr und sah ihr nun tief in die Augen. Jetzt würde der Teil kommen, der alles was vorher war, in den Schatten stellen würde. Er war so grausam, dass ich, bevor ich überhaupt zu erzählen anfing, so stark zitterte, dass Ellen meine Hände in ihre nahm und geduldig wartete, bis ich soweit war. Das rechnete ich ihr sehr hoch an und so gab sie mir die Möglichkeit, mich kurz etwas zu sammeln und zu beruhigen. „Ich wohnte vor einigen Jahren in einer WG mit zwei Männern" begann ich stockend. „Sie waren okay, ich hatte ein gutes Gefühl und wir hatten eine gute Zeit am Anfang unserer gemeinsamen Zeit. Nach einigen Monaten zeigte mir der eine von Beiden jedoch sein wahres Gesicht und veränderte sein Handeln mir gegenüber ins totale Gegenteil. 

Es war mir plötzlich nichts mehr erlaubt, wie es vorher war, er machte meine Sachen kaputt, verbrannte sie oder warf sie weg. Einfach so. Ich wusste nicht mehr, was los ist, warum er das tat. Ich versuchte mit ihm zu sprechen, aber für normale Gespräche war er nicht erreichbar. Er rastete dann sofort aus. Ich fühlte mich total hilflos damals" seufzte ich auf. „Ab dem Moment hatten wir sprichwörtlich Krieg. Ich hielt mich meist nur noch draußen irgendwo auf oder wenn, in meinem abgesperrten Zimmer. Jeder Toilettengang wurde zum Spießrutenlauf, essen tat ich meist außerhalb. Eigentlich war ich nur noch zum Schlafen da und selbst das nur mit einem offenen Auge sozusagen. Ich traute ihm nicht mehr über den Weg" erzählte ich ihr weiter. In mir brodelte es mittlerweile vor Wut und ich war mir sicher, dass dies in meinem Gesicht zu sehen war.

Doch Ellen saß einfach nur still da und hörte mir weiter zu. „Bis an diesem einen Tag alles einfach nur eskalierte. Ich war wohl nicht vorsichtig genug, und er passte mich auf dem Weg zum Klo ab, drückte mich sofort mit seinem ganzen Körper gegen die Wand, legte seine Hände um meinen Hals und drückte mit aller Kraft zu" erzählte ich laut schluchzend. Ich spürte jetzt die totale Wut in mir und es fiel mir extrem schwer, sitzen zu bleiben. Tränen rannen in Strömen mein Gesicht herunter, ich konnte mich kaum beruhigen. Ellen drückte meine Hände fest in ihren zusammen und zog mich jetzt sanft zu ihr. Ich lag jetzt in ihrem Arm und sie streichelte sanft über meinen Rücken. Ich spürte ihre Wärme, ihren Herzschlag, der gleichmäßig in ihrer Brust schlug, sie gab mir damit die Gewissheit, nicht allein damit zu sein und ermutigte mich so ganz still, weiter zu sprechen, wenn ich es wollte. 

Sie sagte nichts, sie war einfach nur da für mich, hielt mich. Langsam beruhige ich mich und erzählte weiter von diesem schrecklichen Erlebnis. „Wie durch ein Wunder gelang es mir mich zu befreien und aus der Wohnung zu laufen. Ich war extrem geschockt und blind vor Tränen gewesen. Hatte er es nicht geschafft, so hätte es auch jederzeit ein Auto oder so schaffen können, ich bekam absolut gar nichts mehr mit, als ich mit meinem Rad die Flucht durch die Straßen ins Nirgendwo begann. Letztendlich landete ich nach Stunden bei einem Freund von mir, der mich erst mal liebevoll bei sich aufnahm und mit dem ich dann auch Anzeige wegen Mordversuch bei der Polizei aufgab" erzählte ich ihr weiter.

„Um es kurz zu machen, die Staatsanwaltschaft hat die Anzeige abgewiesen, selbst der Einspruch hatte nichts gebracht" schloss ich die Unterhaltung ab. Stille legte sich über uns. Ich gab Ellen und mir die Zeit, die wir brauchten, um das Gesagte zu verarbeiten. Es fühlte sich gut an. Es gab mir Sicherheit und Ruhe. Laut seufzte ich auf, wusste ich doch, dass das noch immer nicht alles war, jedoch wollte ich ihr und mir erst mal Zeit geben. Es fühlte sich trotzdem so an, als würde ein riesengroßer Felsen von mir fallen, den ich die ganze Zeit immer mit mir herum getragen hatte. Ich hatte mich endlich jemandem geöffnet, und dieser jemand, war nicht irgendwer.

Auch wenn wir uns bisher eigentlich gar nicht kannten, war das so wichtig für mich, dass gerade sie es war, es gab mir Zuversicht und Kraft. Ich begann mich in ihren Armen fallen zu lassen, ließ den Tränen ihren freien Lauf und spürte wieder das langsame Streichen ihrer Finger über meinen Rücken. Sie fragte nichts, tat aber sonst auch einfach gar nichts. Nur das und es fühlte sich so richtig an. Ich fühlte mich angekommen. Endlich. 

Song: Jess Glyne - Take me Home

Lost LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt