Noras Sicht
„Weinst Du zum ersten Mal deswegen?" fragst Du mich leise, als Du Dich wieder gefasst hast und ich seufze sehr laut auf, bevor ich Dir fast unmerklich zunicke und mich sofort wieder an Deinem Hals verstecke, meine Finger sich in Deine Schultern drücken, bis sie weiß angelaufen sind und ich immer noch wie ein Schlosshund weine. „Du hast es all die Jahre verdrängt und runter geschluckt?" fragst Du mich, hebst mein Kinn an und siehst mich mit erstaunten Augen an. Wieder kann ich nur nicken, weil meine Stimme mich eiskalt unter all dieser Last verlassen hat.
„Oh mein Gott Nora, dass...ist furchtbar" murmelst Du und ziehst mich noch näher zu Dir. „Ich bin hier, ich bin da für Dich, ich lass Dich nicht los, niemals. Lass es raus, bitte, halte es nicht weiter zurück. Lass es Dich nicht auffressen. Du bist nicht mehr allein damit" höre ich Dich ermutigend sprechen. In diesem Moment öffnen sich endgültig wirklich alle Schleusen, alles was ich all die Zeit über unter unglaublich kräftezehrenden Bedingungen zurück gehalten und vor allen versteckt habe, löst sich von mir und ich spüre durch Dich die Kraft, die Sicherheit und das Vertrauen mich vollends fallen zu lassen. Mit Deinen starken Armen hältst Du mich so fest Du kannst bei Dir, bis Du spürst, dass ich mich ganz langsam wieder etwas beruhige und wartest, bis ich Dich wieder ansehe.
„Es tut mir wirklich unglaublich leid, was mit Deinen Eltern passiert ist. Aber mein Schatz, ich spüre, dass ist nicht alles, oder?" fragst Du mich und ich nicke wieder. Unsicherheit zieht in mir auf, als sich mit einer unglaublichen Gewalt all die Bilder wieder ihren Weg nach oben bahnen, was meine Eltern mir angetan haben. Mechanisch schüttle ich mich in Deinen Armen, balle meine Finger zu Fäusten, ringe nach Luft, versuche zu schreien, doch keiner davon erreicht Dich, da meine Stimme wie tot ist und ich daher lautlos bin.
Unglaublich zärtlich nimmst Du meine verkrampften Fäuste in Deine Hände und streichelst sie ganz langsam bis sie sich wieder entspannen und lächelst mich jetzt voller Liebe und Zuversicht an. „Hab keine Angst, ich bin hier, vertrau mir, ich lasse Dich damit nicht einfach sitzen, niemals" sprichst Du leise zu mir und siehst mir ermutigend in meine Augen, hebst meine Hände an und küsst sie ganz zärtlich, Finger für Finger, löst sie und küsst ganz vorsichtig meine Augen, meine Nase, meine Lippen.
„Du bist damit nicht allein und egal, was Du jetzt gleich erzählen wirst, es wird mich nicht von Dir weg treiben. Hast Du mich verstanden Nora?" fragst Du mich bestimmt und ich antworte Dir mit einem kratzigen „ja". Mehrmals räuspere ich mich und beginne Dir mit bebender Stimme zu erzählen, während es mir schaudernd den Rücken runter läuft und ich in meine Erinnerungen eintauche...
Ich war nie wirklich gewollt oder geliebt. Zumindest war das meine Realität. Meine Mutter sagte zwar immer, dass ich ein Wunschkind war, aber es fühlte sich in keiner einzigen Sekunde meines Lebens so an. Alles was sie mir entgegen brachte, war Wut, Enttäuschung, Selbstbestätigung, Intoleranz und Egoismus. Egal in welcher Form. Ob verbal oder körperlich. Ich konnte ihr nie etwas recht machen. Egal, wie gut ich es immer versucht habe. Ich war nie gut genug und konnte sie damit auch nie zufriedenstellen.
Was sie aber immer gemacht hat, war mich dazu zu benutzen, sich als das Beste was es gab, darzustellen. In Situationen, in denen es mir hundeelend ging (zbsp. das Mobbing in der Schule) und ich sie um Hilfe bat, verweigerte sie mir diese grundlos und ging einfach zur Tagesordnung über. Ich musste um jedes verdammte bisschen kämpfen, bekam aber niemals dass, was ich wirklich brauchte. Versagte ich in etwas, bekam ich nur noch mehr von allem zu spüren.
Es war die absolute Hölle für mich. Gewalt war an der Tagesordnung. Anschreien, erniedrigen, demütigen usw. waren Grundpfeiler meines Lebens dort. Wenn sie mit Worten nicht weiter kam, gab es halt Schläge. Meistens reichten aber die Worte vollkommen aus, denn sie waren wie Ohrfeigen. So gezielt und so voller Wut gesetzt, dass ich irgendwann nicht mehr konnte und mich begonnen habe, komplett zurückzuziehen und mich total zu verschließen. Was sie dann jedoch noch mehr auf die Palme gebracht hat und sie die Kontrolle verlieren ließ. Mehrmals. Ach, eigentlich immer.
Ich habe extrem darunter gelitten, konnte mich aber niemandem anvertrauen. Ich konnte überhaupt niemandem mehr vertrauen. Ich hatte meinen kompletten Glauben an die Menschheit verloren. Ich war unglaublich mutlos, allein und vereinsamte immer mehr. Mein Bruder war einfach der König in der Familie, er durfte alles und konnte sich alles erlauben. Er hat Dinger gebracht, die ich für unmöglich hielt, und doch bekam er noch Anerkennung und Lob dafür.
Was für eine Häme...Ich war so unglaublich sauer und wütend, enttäuscht und verloren. Alles was ich doch wollte, war Liebe, Aufrichtigkeit, Geborgenheit, Sicherheit und Schutz. Und niemand hat es gesehen oder erkannt, da ja das feine Bild einer „glücklichen, zufriedenen Familie" nach außen gewahrt bleiben musste...Meine Mutter stand sogar oft daneben, wenn mein Bruder mich mal wieder verkloppt hat und hatte keinen Anstand mir zu helfen. Weder als kleines Kind noch als Teenager. Es war ihr schlichtweg egal.
Mein Vater war nur unterwegs und hat sich eigentlich gar nicht um uns gekümmert. Für ihn war alles andere wichtiger. Als ich mich dann auch noch gewagt habe zu outen, war es endgültig vorbei. Ab dem Zeitpunkt war ich quasi Luft und wurde auch so behandelt. Es war nicht mehr zum Aushalten. Irgendwann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, zog die Reißleine und war weg. Viel zu spät, aber immerhin. Ich kann und werde ihnen das niemals verzeihen.
Niemals. Sie haben meine Seele zerstört, in einem Alter, in dem ich eigentlich aufrichtige Liebe, Sicherheit, Geborgenheit und Unterstützung gebraucht hätte.
Zitternd, aufgewühlt und wie ein Häufchen Elend sitze ich hier bei Dir im Bett und traue mich nicht, Dich anzusehen. Eisesskälte herrscht in meinem Körper und ich spüre die Verletzungen und die Narben meiner Seele so deutlich wie nie zu vor. Keine einzige Träne kann ich mehr weinen, stattdessen spüre ich nur noch Wut und Verachtung in meinem Körper regieren. Mein Körper fühlt sich so ausgemergelt und ausgetrocknet an. Mir ist so dermaßen übel, aber ich kann mich nicht mal mehr übergeben. Nicht mal aus purer Wut.
Stille legt sich über uns, nur unser beider Atem ist zu hören, als ich meine Erzählung beende. Plötzlich und unerwartet sucht sich eine unglaubliche Angst ihren Weg in meinen Körper, dass Du dass alles nicht ertragen kannst und mich doch verlassen wirst und ich mit der ganzen Scheiße wieder alleine bin. Ohne dass ich etwas dagegen tun kann, spüre ich, wie ich wieder zurück in meinen Tunnel gleite und mich kurz davor befinde, endgültig und für immer aufzugeben. In diesem Moment fühle ich Deine Hände an meinen Schultern, wie sie mich an Dich ziehen und mich umarmen. Liebevoll, zärtlich, warm und voller Sicherheit und Geborgenheit. „Bleib hier Nora, geh nicht wieder weg. Du bist nicht mehr bei Ihnen, Du bist jetzt bei mir. Bitte verlass mich nicht" höre ich Dich traurig und mit zitternder Stimme in mein Ohr flüstern und spüre Deine Tränen an meiner Wange, an meinem Hals. Tief seufzend lege ich langsam meine Arme um Dich, halte mich wie ein Ertrinkender an Dir fest und vergrabe mein Gesicht an Deinem Hals. Zeitlos verharren wir so, tiefe Seufzer und fassungsloses Weinen sind die einzigen Zeugen unserer stummen Unterhaltung bis wir irgendwann, noch immer einander Halt gebend, vor purer Erschöpfung einschlafen. Es gibt uns Zeit, zu verstehen, zu verarbeiten und hoffentlich später mit klarem Kopf auf zu wachen und in Ruhe darüber sprechen zu können...
Fortsetzung folgt...
Wahrheit ist, wenn Emotionen aus der Erinnerung zur Realität werden..
Ich hätte jetzt gerne direkt weiter geschrieben, vor allem aus Ellens Sicht...aber das kommt dann später... mich überrollen gerade die Erinnerungen so extrem...
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Lost Love
Romance2 Liebende. Für immer, dachten sie. Doch manchmal schlägt das Schicksal unerbittlich zu. Einfach so. Unvorbereitet. Hättest Du alles anders gemacht, als Du es bis dahin getan hast? In diesem Moment? Vergiss es, es ist eh zu spät. Du kannst nichts...