Teil 100

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Isil

Weinend krallte ich mich an ihn fest und drückte meine Lippen an seine. Dieses vertraute kribbeln machte sich bekannt und es floss durch mein ganzen Körper. Durch ein quietschen trennten wir uns von einander und schauten beide lächelnd außer Atem auf Mahir. Er zappelte in seinen Armen hin und her, aber beruhigte sich, als Tolga ihn kurz am Arm streichelte. »Es tut mir Leid«, entschuldigte ich mich für den Kuss und schaute auf den Boden. »Wieso tut es dir leid?«, fragte er nun und nahm mein Kinn in seine Hand, um mich dazu zubringen ihm in die Augen zu schauen. »Ich weiß es nicht. Ich fühle mich schuldig«,wischte ich nun die einzelnen Tränen weg, ging an ihm vorbei, um mich auf die Couch zu setzten. Er tat es mir gleich, legte aber davor Mahir auf den Boden, in seine Spielecke. »Musst du nicht. Wirklich nicht. Du hast mir ein Leben geschenkt«, strich er über meine Hand und küsste sie. »Es war schwer ohne dich. Ich habe alles alleine machen müssen. Ich konnte ohne dich nicht und bin ausgezogen. Irgendwie hatte ich die Hoffnung, dass es mit einem Umzug leichter wird, verstehst du? In Hamburg habe ich dich überall an dich denken müssen, aber als wir dann hier nach Köln umgezogen sind, habe ich gemerkt, dass es egal ist wo ich bin. Nicht der Ort hat mich an dich erinnern, sondern mein Herz. Ich habe in den Schlaf geweint, geträumt von dir. Du hast mir in meinen Träumen Mut zugesprochen, ich habe dir sogar immer versprochen weiter zu kämpfen, aber immer wenn ich meine Augen aufschlug, brach ich das Versprechen. Es ging nicht. Dann kam Mahir auf die Welt. Ich war so überfordert. Manchmal wenn er geweint hat und ich nicht wusste wieso er weint, habe ich mich hingesetzt und mitgeweint. Für eine Mutter schmerzt es, dass ihr Kind weint, aber was sollte ich machen? Ich habe alles gemacht, aber er blieb nicht still. Dann habe ich gemerkt, dass wenn ich etwas glücklicher bin, wird er es auch. Aber um mich glücklicher zumachen brauchte ich dich. Aus diesem Grund habe ich mir eine Kamera gekauft und alles dokumentiert. Ich habe jeden Tag etwas aufgenommen und gesprochen. Eben so getan als ob du es bist. Das tat mir gut und ich konnte Lächeln. Deine Mutter hat mir auch geholfen, aber eine Person die selber kaputt war, konnte mich auch nicht flicken. Seni cok özledim. (Ich habe dich vermisst)« 

Ich lag in Tolgas Armen und Mahir auf seiner Brust. Gemeinsam schauten wir uns die Videos an die ich gemacht hatte. Jedesmal entschuldigte er sich, für jeden Tag den ich aufgenommen hatte. Und jedesmal wischte ich ihm die Tränen weg und drückte ihm ein Kuss auf die Wange. »Wir sollten zu deiner Mutter. Sie wird ausflippen.« »Was ist mit Melda?«, fragte er nur und sah mich verwirrt an, da ich anfing auf meiner Lippe zu kauen. »Auch wenn ich weg war, weiß ich, dass dieses nichts gutes heißt«, stellte er fest und strich über meinen Arm. »Melda und Emre sind verheiratet«, sagte ich nur und lächelte. »Schön für beide, aber jetzt sag mir was du hast«, bestand er drauf und schaute mich besorgt an. »Melda wollte nach deinem Tod mich nicht mehr sehen.« »Selbst nach Mahirs Geburt?«, hinterfragte er und sah mich emotionslos an. »Selbst dann«, gestand ich ihm und sofort spürte ich, wie sich die Wut bei ihm ausbreitete. »Diese kleine verlogen-« »-sag sowas nicht! Sie ist deine Schwester. Es hat sie sehr verletzt, sie hat auch gelitten«, verteidigte ich sie, da ich sie auch etwas verstand. »Mir egal! Isil, ohne dich hätte ich ihr nie verziehen und sie würde Emre auch gar nicht kennen lernen. Wahrscheinlich würde sie noch bei ihrem Exmann bleiben und ein unglückliches Leben führen. Sie wird noch etwas zu hören bekommen«, sprach er die Drohung mehr zu sich selbst als an mich. »Können wir es an einem anderen Tag besprechen? Ich will nicht, dass du Probleme mit deiner Familie bekommst, wegen mir«, sagte ich und streichelte über Mahirs Rücken. Er war schon lange eingeschlafen, weswegen ich ihn von Tolga nahm und in sein Zimmer brachte. Tolga folgte mir natürlich und betrachtete Mahirs Zimmer. »Schön hast du es gemacht«, gestand er und legte seinen Kopf auf meine Schulter. Gemeinsam schauten wir auf das Kinderbett und konnten uns ein glückliches Lächeln nicht verkneifen. »Weißt du, dass ich zum ersten mal so richtig lache und mein Herz pocht, aber nicht vor Angst jemanden zu verlieren sondern aus reiner Liebe?« 
Die ganze Nacht konnte ich kein Auge zudrücken, genau wie Tolga. Wir lagen im Bett und hatten uns einfach nur angeschaut, nichts gesagt, nur uns angeschaut. Ab und zu strich er mit seiner freien Hand über mein Gesicht, die andere Hand hatte ich umklammert gehabt. Auch weil wir nicht schliefen, standen wir auch früh auf. Während ich in der Küche stand, saß Tolga im Wohnzimmer mit Mahir zusammen. Ich hatte Serpil Anne angerufen, dass sie herkam, aber nichts von Tolga gesagt. Vielleicht war es leichtsinnig, das sie vor Schreck vielleicht noch umfällt oder ihr irgendetwas passierte, aber Tolga bat mich drum. Abschlagen konnte ich es nicht, so wie er mich ansah dabei und erst neu hatte ich ihn bei mir. Ich stellte gerade die geschnittenen Tomaten auf den Tisch als es klingelte. »Geh du!«, schrie Tolga vom Wohnzimmer aus, da es niemand anderes als Serpil Anne sein konnte. Glücklich grinsend ging ich zur Tür und riss die Tür auf. »Kizim, du strahlst aber auch!«, begrüßte sie mich und drückte mich an sich. »Du wirst auch den Grund erfahren!«, strahlte ich und nahm ihre Hand. Im Flur hing sie ihre Tasche auf und zog ihre Pantoffeln an. »Du musst mir versprechen nicht umzukippen.« Misstrauisch begutachtete sie mich, was mein Grinsen noch breiter machte. »Du machst mir angst«, gestand sie mir, ließ sich aber von mir mitziehen. »Anne, bak! (Mama, schau!)« Sie schaute erst zu mir und dann ins Wohnzimmer. Dort sah sie Tolga mit Mahir auf dem Arm. Als Tolga seine Mutter entdeckte, legte er Mahir ab, kam auf sie zu und stand vor ihr. Mahir fing sofort an zu quengeln, weswegen ich ihn auf den Arm nahm und mich zu Tolga stellte. Serpil Anne hatte immer noch kein Wort heraus gebracht und schaute ihren Sohn mit weit aufgerissenen Augen an. Irgendwie passierte das so schnell, dass keiner von uns damit gerechnet hätte. Sie ging auf Tolga zu und schlug ihn auf die Brust, bis er sie an den Händen festhielt und umarmte. 
Wir saßen alle am Tisch und wollten eigentlich essen, aber wir waren nur im Gespräch vertieft, dass wir alles um uns herum vergaßen. Mahir war die ganze Zeit in Tolgas Armen und Tolga umschlungen von Serpil Anne. Es war ein wunderschönes Bild, welches mir bat. Immer wieder musste ich Lächeln, wenn ich diesen Anblick vor Augen hatte. »Lasst uns doch essen«, murmelte ich, aber merkte schnell, dass keiner mir zuhörte. »Gel olus sen bari anneyi dinle (Komm her mein Sohn, hör du wenigstens deiner Mutter zu)«, nahm ich ihn aus Tolgas Armen und ging mit ihm ins Schlafzimmer. Ich setzte mich auf das große Bett und grinste Mahir an. »Du bist und bleibst das wichtigste in meinem Leben«, küsste ich seine Stirn und stillte ihn. Seine kleine Hand umklammerte meinen Zeigefinger, was ein wohliges Gefühl in einen auslöste. »Hier bist du.« Angelehnt an der Tür stand Tolga und grinste mich schief an.

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