Teil 98

2.7K 89 13
                                    

Isil

»Was machst du eigentlich gerade?«,fragte Alex mich, während ich etwas aufräumte. »Ach, eigentlich nichts besonderes. Muss halt mal wieder sauber machen«, antwortete ich ihr und legte das ganze Spielzeug in die kleine blaue Kiste. Als ich endlich das Wohnzimmer etwas aufgeräumt hatte, setzte ich mich auf die Couch und wollte gerade mich erschöpft zurück lehnen, als ich den Schrei hörte. Schnell stand ich mit dem Hörer in der Hand auf und rannte ins Kinderzimmer. »Alex, ich muss auflegen«, teilte ich ihr mit und legte dann nach ihrem »Tschüs« auf. »Du kennst Mami aber echt gut. Immer wenn ich mich ausruhen will, bist du wie ein kleiner Wecker«, sprach ich mit ihm und gab ihm einen Kuss auf die Hände, als ich ihm aus dem Kinderbett geholt hatte. Er schenkte mir sein schönstes Lächeln überhaupt. »Mit diesem unwiderstehlichen Lächeln machst du nicht alles gut, aber, ach ich kann dir doch gar nicht widerstehen«, lachte ich und schmiegte ihn mehr an mich. Ich liebte ihn so sehr und hatte auch immer so angst. Ich hatte Angst jemanden so sehr zu lieben und ihn dann zu verlieren. Ich drückte ihn an mich und ging wieder mit ihm ins Wohnzimmer. Dort setzte ich mich auf die Couch und ihn auf meine Brust. Wie immer auch umklammerte er mit seinen kleinen Händen meine Haare und lächelte. Ich wusste nicht was dem kleinen durch den Kopf ging oder ob er überhaupt an irgendetwas dachte. Am meisten hatte ich Angst davor, dass er älter wurde. Was wohl passieren würde, wenn er anfangen würde zu reden? Würde er dann auch nach seinem Vater fragen? Und was würde ich antworten? »Mein Schatz, Papa ist im Himmel und achtet von dort auf dich.« Wieso meinte das Schicksal es nicht gut mit uns? Wieso mussten nur die Personen, die sich so sehr liebten nur leiden? »Weißt du mein Engel wer heute kommt?«, frage ich ihn und strich behutsam über seinen Rücken. »Oma kommt heute. Sie hat vor paar Stunden angerufen und meinte, dass sie dich vermisst hat, mein Schatz«, sagte ich und stand mit ihm auf. Ich ging in sein Zimmer und wechselte dort seine Windeln. Danach zog ich ihm etwas anderes an, da wir Besuch bekamen. Tolgas Mutter wollte vorbei kommen. Ich hatte sie als einzige erreichen können. Melda hatte ich seit dem Vorfall mit Tolga nicht gesehen. Die Mutter von Tolga hatte ich aufgesucht. Ich hatte vor ihrer Haustür geweint, bis sie mich rein nahm und mich bat alles zu erzählen. In dieser Nacht hatte ich gut geschlafen, gut, weil ich eine Person bei mir hatte, die Tolga kannte oder besser gesagt ein Teil von ihm war. Genau aus diesem Grund schlafe ich immer mit Mahir zusammen. Meinem Sohn. Seinem Sohn. Ich kann mich noch erinnern, wie ich bei der Geburt drauf war. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass er neben mir stehen würde. Er würde mir beruhigende Wörter zuflüstern, ich würde ihn anschreien, wegen den Schmerzen. Vielleicht würde ich sogar meine ganze Wut an ihm herauslassen, ihm sogar die Hand zerdrücken und in sein schmerz verzogenes Gesicht blicken, aber wissen, dass er nichts sagen wird. Er würde alles stumm hinnehmen und dann würden wir den Schrei unserer Kindes hören. Sein wunderschöner Schrei. Aber alles, genau wie ich es mir vorgestellt hatte, passierte natürlich nicht. Alleine, wie ich war, lag ich auf der Liege und starb. Ich zerdrückte nicht die Hand meines Mannes, meines Tolgas, sondern die Hand einer mir fremden Person. Nicht er war, der meine Tränen sah, sondern mir wieder einer fremden Person. Von da auf war mir klar, dass ich ganz auf mich alleine gestellt war. Alleine. Wie sonst immer auch.

Ich nahm mir Mahir wieder in die Arme und ging wieder ins Wohnzimmer. Dort legte ich ihn auf seine Decke, wo er mit seinen Spielzeugen spielen konnte, auch wenn er alles eigentlich nur in den Mund nahm. Als ich ihn da liegend sah, ging ich beruhigt in die Küche. Auch wenn ich nicht viel Zeit hatte, wollte ich etwas vorbereiten. Es wäre unhöflich nichts zu haben, wenn man einen Gast hatte. Ich wusste zwar, dass sie mich anschimpfen wird, warum ich doch etwas mache mit dem Kind, aber so fühle ich mich wohler. Vielleicht auch nur, weil ich wusste, dass es Serpil Anne (Tolgas Mutter) gut ging. Ich hatte mich nicht so schuldig gefühlt, naja, erst zum Schluss hin, als ich unseren Sohn im Arm hatte, dann gingen die Schuldgefühle an Tolgas Tod weg. Vielleicht konnte ich etwas ändern, aber auch nur vielleicht. Aber dieses vielleicht brachte mich um. Zu wissen, dass man vielleicht eine andere Möglichkeit hatte, vielleicht einen anderen Ausweg. Eine andere Zukunft, vielleicht sogar eine Zukunft die nicht gemeinsam war, aber immerhin beide anwesenden am Leben. Er am Leben. Mir würde es auch nur reichen, wenn ich wüsste, dass er dort draußen irgendwo atmen würde. Einfach nur am Leben.

Unsere GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt