Kapitel 35 - Irische Totenwache

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Ich sitze bestimmt seit mindestens einer Stunde auf dem Dach. Bei mir befindet sich nur eine Flasche Whisky und ein sauberes Glas. Mein Blick ist auf das Meer gerichtet und einzelne Tränen bahnen sich ihren Weg. Das Brennen in meinem Hals und das wohlige Gefühl in meiner Brust mindern nicht im entferntesten den Schmerz. Ich schenke mir ein neues Glas nach und als ich die Tür zum Dach höre, trinke ich einen großen Schluck. 

Wie immer setzt er sich neben mich und sieht auf das Meer. Alleine seine Anwesenheit treibt mir weitere Tränen in die Augen und ich versuche mich zusammenzureißen.

"Du wusstest es", sagt er und ich erkenne einen feststellenden Unterton.

"Das Norikita stirbt? Ja", antworte ich einfach nur und trinke noch einen Schluck. Weshalb sonst habe ich mir den Nachmittag freigenommen, um mit ihr zu reden und Zeit zu verbringen. Ich wusste es schon, als ich sie hier zum ersten Mal im Konferenzsaal sah. Zitternd stelle ich mein Glas ab und versuche durchzuatmen. Es ist eine Sache, wenn Leute in den Spielen sterben, die du nur den Bruchteil einer Sekunde kennst. Aber jemanden zu verlieren, den du schon vor dem Borderland kanntest, ist eine ganz andere. 

Ich sehe zu Chishiya und sobald sich unsere Blicke treffen, wende ich ihn ab. Ich stehe auf und laufe unruhig herum, meine Beine gehorchen mir einfach nicht. Auch der Mann mit der weißen Weste steht auf, doch ich achte nicht auf seine Gesichtszüge. 

"Sie hat es nicht verdient hier her zu kommen", sage ich und streiche meine Haare nach hinten. Sie war eine zu gute Seele für diesen Ort und die Spiele. Sie arbeitete ehrenamtlich in einem Seniorenheim und zauberte jedem ein lächeln ins Gesicht. Sie sollte niemals an so einen Ort geraten! Ich weiß nicht, ob ich lieber schreien oder auf etwas einprügeln möchte, doch ich tue das einzige, was sich für mich richtig anfühlt. Ich umarme Chishiya und meine Hände verkrampfen sich in seiner Weste. Auch wenn die Umarmung das letzte ist, was er möchte. Ich brauche das jetzt einfach. Ich atme den Duft seines Shampoos ein und mir ist gleichgültig, ob er mich jetzt von sich wegschiebt. Doch er tut überraschender Weise das Gegenteil. Nach einer Weile stillstehen legt er seine Hände um mich und zieht mich ein kleines Stück näher an sich. 

"Ich wusste, dass sie heute stirb. Ich hätte mitgehen sollen", sage ich und kralle mich nur noch weiter in die Weste. Aber ich weiß nicht einmal, was für ein Spiel es war. Wenn ich mitgegangen wäre und es ein Herzspiel wäre ...  Sie hat sich so gewünscht wieder in die normale Welt zurückzukehren. Ich hoffe sie ist jetzt an dem Ort, an dem sie sich wohl fühlt. Er antwortet nicht, doch ich erwarte auch keine Antwort. Meine Worte gleichen jenen, die es nicht anders ausdrücken würden. 

Langsam löse ich mich von ihm und sacke schon fast zusammen. Gelassen setzt er sich neben mich und schielt auf den Whisky.

"Sie hat sich immer eine Irische Totenwache gewünscht. Sie wollte nicht, dass man trauert, sondern eher ihr Leben feiern"

"Das klingt nicht schlecht. Vielleicht hätte ich wenigstens einmal mit ihr reden sollen", lacht er leicht und ich will einen weiteren Schluck trinken, doch er nimmt mir das Glas weg, "Ich dachte sie wollte eine irische Totenwache, dazu sind mindestens zwei Leute gefragt"

Er nimmt einen Schluck aus meinem Glas und ich kann nicht anders, als ihn dankbar anzulächeln. Wie kann er manchmal so unnahbar sein und im anderen Moment mitfühlend, jedenfalls auf seine eigene Art und Weise.

"Würde sie es gutheißen, dass ich hier bin?", fragt er und ich höre einen leicht unsicheren Ton.

"Sie würde dich lieben", sage ich auf das bezogen, was sie mir zuletzt erzählt versuchte. Vielleicht hatte sie recht, ich mag Chishiya. Aber wie sehr? Dieses Mal lächelnd nehme ich das Glas aus seiner Hand und trinke einen Schluck. Norikita würde ihn wirklich lieben, denn für sie zählte immer, was ich fühle. Ich setze mich wieder in Blickrichtung Meer, doch ich fühle mich immer noch so, als würde ich Chishiya umarmen.

"Sie wusste es auch", stelle ich fest und sehe dem Mann neben mir direkt in die Augen, "Sie hat Niragi gesagt, er soll eine Schallplatte besorgen"

"Welche?"

"Mein Lieblingslied", antworte ich und er sieht mich neugierig an, "I like me better"

"Kenne ich nicht", sagt er. Ich greife nach seinem Handgelenk und ziehe ihn mit mir. So wie ich Norikita kannte, hat sie es nicht erst heute in Auftrag gegeben. Als ich die Schallplatte vor meinem Zimmer sehe, zerre ich den verwunderten Chishiya in mein Zimmer und lege die Platte auf. Es ist einer meiner Lieblingslieder, das wusste sie. Sobald ich die Melodie höre, steigen mir  Tränen in die Augen, doch ich versuche sie vor Chishiya zu verbergen. Ich setze mich auf mein Bett und versuche mich zu beherrschen. Norikita, dein letztes Lied ist mein Lieblingslied. Mehrere Tränen steigen mir wieder in die Augen, sie hat es geahnt. Sie ist die einzige, welche dieses Lied mit mir in Verbindung bringen könnte. 

Erst möchte ich Chishiya etwas erzählen, doch ich verstumme. Er würde es vielleicht nicht verstehen, doch das Lied spring auf den Anfang. Ich weiß nicht, aber ich glaube zu erkennen, wie seiner Züge sanfter werden.



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