Kapitel 143 - Der Henker und sein Richter

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Mit sturmgetrübten wachsamen Augen beobachte ich die Szenerie vor mir, während der schwache Wind mir immer wieder eine meiner Haarsträhnen ins Gesicht weht. Die seichten Wellen des angrenzenden Meeresabschnittes tragen eine salzige Briese an Land und von meiner Position auf dem Dach kann ich die Lichtspiegelungen im Wasser aus der Ferne betrachten. Beinahe schon idyllisch wirkt diese Unterkunft und ich verstehe nachzuvollziehen, welche Gedanken der Hutmacher bei der Begründung hatte.

Verlorene Menschen die sich an einem Ort zusammenfinden. Die Schutz in dieser düsteren Welt suchen und Sicherheit in dieser Gemeinschaft finden. Mut sich diesen Spielen zu stellen und seinem Tod zu entrinnen. Ich dachte immer schon ich wäre einer dieser Menschen, während ich nun zu der besonderen Auslese der Führungsriege zähle. Ich weiß nicht genau was mich dazu qualifiziert ein Teil dieser Elite zu sein, noch weniger über ein Leben zu entscheiden. Diese Aufgabe trägt so viele komplizierte Fassetten in sich:

Das Borderland mag grausam sein und man möchte das kleinere Übel wählen, während seine eigenen Hände blutig werden. Wenn diese Menschen Gräueltaten begangen haben die unvorstellbar sind, dann stimmt man als Mitglied der Führungsriege nicht nur für das Schicksal der anderen Bewohner, sondern auch für ihre eigenen Vorteile. Einen solchen Spieler zu eliminieren, bevor er einem selbst in einem Spiel begegnet, minimiert die einkalkulierten Risiken. Dennoch muss mein Herz nach all dieser Zeit wirklich kalt geworden sein, dass ich auch nur an die Möglichkeiten meiner Stimmvergabe denken mag.

Ich habe vor meiner Einkehr in diese Welt Rechtswissenschaften studiert. Ein Fach, welches den Anwender vermag einen Menschen verteidigen zu können, gar wie schuldig er auch aussehen mag. Es war meine äußere Hülle, die ich zuliebe meiner Familie und meines Status angenommen habe. Natürlich beuten Anwälte ihre Mandanten aus, Richter lassen sich bestechen und Staatsanwälte werden korrupt. Aber niemals habe ich die Absichten oder den Zweck hinter dem Grundprinzip verleugnet. Anwälte und Richter wurden damals geschaffen, um willkürliche Herrschaftssprüche und Morde vor dem Volke als nicht-legitim gelten zu lassen und einen fairen Prozess zu gewähren. Richterliches Gehör, einen fairen Prozess. Und ich wage die Vermutung zu behaupten, dass der Schein in der Führungsriege diesen wahrt, aber dennoch kommt es mir nicht fair vor. Nur die wenigsten werden die Tatsachen und Anhörungen zum Gewicht ziehen, die meisten handeln aus Eigeninteresse oder Impulsivität. Sollte ich da nicht meine neutrale Stellung nutzen und eine neutrale Wirkung entfalten.

Doch was spricht mir das Privileg zu neutral zu sein? Lasse ich damit nicht auch gleichzeitig meine Deckung vor den gefährlichsten Spielern in der Gemeinschaft sinken und offenbare meinen früheren Beruf und einen Teil meiner Fertigkeiten, mit welchen nur Chishiya zur Zeit rechnen kann? Könnte mein aktives Eingreifen das Interesse an den anderen Spielern an mir steigern? Jeder von uns ist getrimmt darauf die Schwächen eines jenen den wir begegnen zu kalkulieren, alle Informationen helfen dabei. Könnte ich mich als unwürdig erweisen ein Teil von ihnen zu sein oder die Entscheidung des Hutmachers mich aufzunehmen anzweifeln.

Ich weiß nicht, warum der Hutmacher mich in einer solchen Position gesehen hat. Indirekt hat er mich immer darauf vorbereitet: Private Gespräche, meine Rettung nach dem Pik zehn Spiel und das Vertrauen in mich. Doch aufgrund dieser Vorbereitungen hat mich Aguni als eine Anwärterin der Führungsriege anerkannt. Aber ich bin ihm wohl auch nach seinem Tod eines schuldig: Er erwartet nicht mich als rechtschaffend zu beweisen, aber doch einem Moralkodex zu folgen. Jedenfalls zu Beginn, bevor er mir immer fremder wurde und sich zurückgezogen hat. Ich mochte Danma, doch ich habe mich nicht der Illusion hingegeben, dass er zu Ende nicht dem Wahnsinn seiner Herrschaft verfallen ist. Nur er konnte dem Militärtrupp die Stirn bieten und danach noch ruhig schlafen.

Nachdenklich kaue ich sachte auf meinem Daumennagel, als ich eine Gestalt in schwarzer Kleidung auf dem Außengelände ausmache und meine Augen adlermäßig die Bewegungen und die Richtung fixieren. Aguni scheint eine seiner Morgenroutinen durchzuführen und einen sportlichen Lauf um das geschützte Gelände absolviert zu haben. Mit schlendernden Schritten steuert er die Pforte zur Eingangshalle zu und muss jeden Moment diese betreten. Ich kann nicht einfach urteilen und mir Gedanken machen, ohne die Fakten zu kennen. Instinktiv springe ich auf, meine Beine und verlasse meinen Beobachtungsposten, um in das Innere des Hotels zu gelangen und die Treppen mich schneller Geschwindigkeit hinter mich zu bringen. Schon von dem Treppenabsatz im zweiten Stockwerk erkenne ich den neuen König des Beach und während ich die letzten Meter gemütlich neben ihn herunterspringe, passe ich mich seiner Richtung an und folge seiner Geschwindigkeit.

Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt