Nach zwei Tagen strenger Bettruhe erlaubt mir Ann endlich wieder, mein Zimmer zu verlassen. Izumi und Kuina haben mich mehrmals am Tag besucht. Yuudai hat einmal nach mir gesehen und mir ein Tablett aus der Kantine mit frischem Essen gebracht. Ich bin ihnen sehr dankbar, auch Ann. Ohne sie wäre ich vielleicht verblutet und sie hat öfters meine Wunden untersucht und versorgt. Der Einzige der nicht noch einmal auftauche, war Chishiya. Ich traute mich noch nicht Kuina zu fragen, was mit ihm los ist. Aber ich kann es mir auch ein wenig denken. Im Beach scheint niemand etwas über ihn zu wissen, selbst Kuina scheint nur so wenig wie möglich zu wissen. Dass er nicht mehr vorbeigesehen hat bedeutet, dass er mir höchstwahrscheinlich die Wahrheit gesagt hat. Es scheint ihm nicht zu gefallen, über sich zu sprechen, was ich gut nachvollziehen kann. Ich muss wirklich mitleiderregend ausgesehen zu haben, dass er mir das alles erzählt hat.
Mittlerweile haben sich viele blaue Flecken auf meinem Körper gebildet und die meisten Wunden scheinen Krusten gebildet zu haben, was bedeutet, dass der Heilprozess eingesetzt hat. Die Schwellung an meinem Hals ist abgeklungen, doch die Wunde an meinem Rücken sieht immer noch genauso schlimm und abstoßend aus. Ich entscheide mich für meinen schwarzen Body und die lockere Hose, da es die meisten Wunden verdecken.
Ann hat das Morphium abgesetzt, was meinen Kopf zwar klarer werden lässt, aber mein Körper fühlt sich an wie ein alter Boxsack. Ich kann kaum meinen Arm heben ohne einen ziehenden oder stechenden Schmerz. Ich setze mich mit einem Zeichenblock, einem Radiergummi und einem Bleistift auf eine der Liegen im Poolbereich. Weder im Eingangsbereich noch im Restaurant habe ich ein mir bekanntes Gesicht gesehen, weshalb ich mich meinem Blatt zuwende.
Es ist schon lange her, seit ich das letzte mal gemalt habe. Aber viele Optionen, die so wenig Bewegung wie möglich fordern, habe ich nicht im Beach. Ich achte nicht wirklich darauf, was ich zeichne und meine Gedanken schweifen ein wenig umher. Die letzten zwei Tage schweifen meine Gedanken schon ab, Bettruhe ist wirklich eine Qual.
Die meisten denken darüber nach, wie sie die Spiele überleben und wie sie nach Hause kommen. Aber ich denke irgendwie daran, wie es sein würde wieder zu Hause zu sein. Würde mein Leben dann wieder so verlaufen wie bisher? Einfach wieder zurück an die Universität: Wieder am Unterricht teilnehmen, meine Prüfungen schreiben, bei den Cheerleadern wieder tanzen. Wieder zurück zu meiner Familie, zu meinen Eltern. Würde ich mich überhaupt an das Borderland und die Leute hier erinnern? Mir kommt der Gedanke in der normalen Welt aus Zufall an Izumi oder Kuina vorbeizulaufen und sie nicht zu erkennen. Ein flüchtiger Blick und das war es. Und Chishiya? Die Universität ist zwar groß, aber irgendwann würden wir uns über den Weg laufen. Ob ich irgendetwas an ihm wiedererkennen würde? Die Weste, seine Haare oder das besserwisserische Grinsen. Es fühlt sich komisch an, daran zu denken das alles nicht wiederzuerkennen.
"Du meine Liebe", reißt mich eine Stimme aus meinen Gedanken, "hängst zu oft in deinen Gedanken fest"
Der Hutmacher stellt zwei Flaschen und Gläser auf den kleinen Strandtisch zwischen uns und legt sich auf die Liege nebenan. Er trägt wie immer seine Sonnenbrille mit den runden Gläsern und einen orangenen Bademantel. Er streicht sich die Haare nach hinten und schenkt in beide Gläser etwas ein. Er reicht mir eines und ich sehe ihn verwundert an.
"Tequila?"
"Natürlich, für Whisky ist es ein wenig zu früh", sagt er und ich kann nicht sagen, ob es Sarkasmus war. Seltsam, normalerweise verbringt er Nachmittags keine Zeit am Pool. Ich stoße mit ihm an und sehe mich unauffällig nach jemandem vom Militär oder der Führungsrege um. Ich erkenne nur Niragi auf der anderen Seite des Pools, doch er scheint mehr auf die vorbeilaufenden Mädchen zu achten als auf den Mann neben mir.
"Um diese Uhrzeit hier am Pool?"
"Ach ja", seufzt er kurz, "meine nächtlichen Besucherinnen sind fast alle tot und ich warte auf Ersatz, während ich mit einer Freundin rede"
Ich sehe mich ein wenig weiter um und bemerke, wie viele Leute immer wieder zu uns sehen. Ich erkenne an ihren Blicken sofort, ob sie die gesamte Situation betrachten oder nur den Hutmacher. Ich schließe meinen Block und schenke diesmal von mir aus unsere Gläser nach.
"Das Mädchen mit dem knallpinken Bikini rechts im Pool", beginne ich, "sie zieht sie mit den Augen fast aus. Der Drink in ihrer Hand ist alkoholfrei und sie sieht aus als wäre sie gerade erst Volljährig geworden, was bedeutet dass sie fast noch nie getrunken hat"
Der Hutmacher setzt sich auf und ich kann seinen begeisterten Blick auf mir spüren, also rede ich einfach weiter: "Die Frau im Leoparden-Badeanzug hatte mindestens zwei Brustoperationen und die auf dem schwimmenden Flamingo ist offen für Dreier"
"Du hast eine Gabe", lacht er und scheint sich die angemerkten Frauen genauer anzusehen. Er lacht einfach nur herzlich, woran ich erkenne, dass er eine Wahl getroffen hat. Ich erwarte, dass er sofort aufsteht, doch er schenkt uns beiden erneut nach.
"Wieder eine Besprechung?", rate ich aus einem Gefühl heraus.
"Immer das Gleiche. Wie geht es dir?"
"Schon besser. Aber Ann hat das Morphium abgesetzt, deswegen brauche ich noch mehr Tequila", lache ich leicht und halte mir unauffällig meine Bauchseite, welche schmerzt.
"Da bin ich gerne behilflich", lacht er und trinkt sein Glas wieder in einem Zug aus, "Bis jetzt habe ich noch nie gesehen, dass du dich mit jemandem amüsiert hast. Interessiert dich hier niemand?"
"Nein."
Stimmt das wirklich zu einhundert Prozent? Ich schüttele den Kopf und trinke einen kräftigen Schluck. Niemals habe ich das gerade wirklich gemeint. Ich bemerke, dass ich selbst über mich laut lache und statt zu fragen, stimmt der Hutmacher mit ein. Langsam scheint der Alkohol einen kleinen Teil seiner Wirkung zu entfalten, denn meine Seite tut beim Lachen nicht so weh. Ich sehe nach oben in den Himmel und obwohl es so warm ist, haben sich binnen weniger Minuten Gewitterwolken gebildet. Ich spüre schon den ersten Tropfen und lege meinen Zeichenblock unter die Liege. Einige sehen zu den Wolken und gehen schon nach drinnen, auch der Hutmacher. Als er mich fragend ansieht, winke ich nur ab und sage, dass ich noch bleibe.
Ich schließe meine Augen und genieße jeden einzelnen Tropfen auf meiner Haut. Sobald ein Platzregen ausbricht höre ich, wie alle nach drinnen stürmen. Ich kann die Sonnenliegen verrutschen hören und wie alle ihre Gläser mitnehmen. Doch ich liege einfach nur da. Der Regen scheint meinen Körper abzukühlen und die Schmerzen verschwinden.
Ich fühle mich zum ersten Mal seit dem Spiel entspannt und ... am Leben. Seit ich auf diesem Waldboden lag fühlte ich mich betäubt, wie als würde ich den Atem seit dem anhalten. Die Bilder kamen immer wieder und ich schreckte aus meinen Alpträumen schreiend auf.
Der Regen scheint das alles wegzuspülen, wenigstens für einen Moment. Zufrieden schlage ich meine Augen wieder auf und nehme meinen Zeichenblock, bevor ich als letzte gemütlich zum Eingangsbereich laufe. Manche Frauen regen sich darüber auf, dass ihre Haare nass geworden sind während meine klatschnass an meinem Körper kleben. Ich steuere die Treppen an und ignoriere sogar unkommentiert den grinsenden Blick von Niragi auf der Empore.
Ich laufe einfach zu meinem Zimmer und in dem Moment, als ich die Tür öffnen möchte, drehe ich mich noch einmal zu dem Hauptgang um. Und da steht er und sieht mich direkt an, Chishiya. Im Gegensatz zu sonst trägt er einen schwarzen Hoodie, was mich zuerst verwirrt. Doch die weißblonden Haare lugen unter der Kapuze hervor und er hat wie immer seine Hände in den Taschen. Er beobachtet mich für einen Moment und ich lächele ihm zu. Er jedoch erwidert nicht, kein Lächeln und auch kein Winken. Er nickt nur nachdenklich und dreht sich zum gehen um. Verwirrt sehe ich ihm nach, ich meine habe ich irgendetwas getan, weshalb er mich ignoriert? Kam er vielleicht nochmal vorbei während ich vollgepumpt mit Morphium war und ich habe etwas falsches gesagt?
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Alice in Borderland
Fiksi PenggemarArakida Sayuuri wacht in Tokyo auf und kann keine Menschenseele entdecken. Sie begreift schnell die Spielregeln des Borderlands und schlägt sich immer gerade so durch, bis sie zum "Beach" gelangt. Und da scheinen ihre Probleme erst richtig los zu ge...