Seit gestern regnet es ununterbrochen. Der Militärtrupp und einige Laufburschen haben dafür gesorgt, dass die ganzen Getränke in den Bars nach drinnen geschafft werden und in einem der Clubräume deponiert werden. Ich habe mir sofort drei Flaschen geschnappt für mein Zimmer, um mich nicht durch den vernebelten und stickigen Partybereich drängeln zu müssen.
Ich habe seit gestern in meinen Block gekritzelt und versucht, alle zu zeichnen: Izumi, Yuudai, Kuina, Chishiya ja sogar Aguni, Satoru, Niragi und den Hutmacher. Izumi hat kurz vorbeigesehen, ob ich mit ihr Frühstücken möchte, doch ich habe dankend abgelehnt. Mittlerweile ist es Nachmittag und sitze ich an mein Bett gelehnt. Ich habe es mir vor dem Fenster gemütlich gemacht, mit einem Glas und einer Flasche Gin.
Ich habe heute nicht vor noch einmal mein Zimmer zu verlassen, geschweige denn erwarte ich noch Besuch. Das Wetter entspannt mich irgendwie, wenn auch nicht so wie der Platzregen gestern. Seit ich im Beach bin hat nur die Sonne geschienen und ich habe gar nicht gemerkt, wie sehr ich die Wolken und das trübe Wetter vermisst habe.
Warum ich um die Uhrzeit trinke liegt wohl an meinen neuen Alpträumen. Sie beinhalten weniger den Waldboden und den Mann mit der grinsenden Fratze, sondern mehr die Frau aus dem Polizeiauto. In meinen Spielen habe ich vielleicht dazu beigetragen, dass Menschen sterben. Wie bei meinem Pokerspiel im Casino. Aber ich habe noch keinen Menschen im Borderland getötet, bis zu dem Pik10 Spiel. Ich kann nicht sagen, wie ich mich deshalb fühlen sollte. Sollte ich traurig darüber sein, ein Leben genommen zu haben? Glücklich weil ich überlebt habe? Rechtschaffend, dass es einen bösen Menschen weniger gibt? Wütend was aus mit geworden ist? Irgendwie ist da eine Leere, vielleicht habe ich das alles noch nicht richtig verarbeitet und werde irgendwann mit einem Wall aus Schuldgefühlen überschüttet.
Ich schenke mir nach und fange an, mit meinem schwarzen Gummiball zu spielen. Ich bin anscheinend so in Gedanken versunken, dass ich nicht bemerke wie Kuina reinkommt und sich quer über mein Bett legt. Als ihr Kopf neben dem meinen erscheint erschrecke ich, was sie zum lachen bringt.
"Ich frage mich langsam wirklich, was in deinem kleinen Köpfchen vor sich geht", lacht sie und tippt mir leicht auf den Hinterkopf. Ich lache nur und möchte etwas erwidern, als ich einen Geruch wahrnehme. Ich stehe auf und setze mich ihr gegenüber auf das Bett. Mein Blick gleitet zu den zwei Tabletten mit Reis und Gulasch.
"Ich dachte wir könnten zusammen zu Abend essen und eine Runde 'Mensch ärgere dich nicht' spielen", erklärt sie und ich lächele sie dankend an.
"Danke, ich habe langsam wirklich Hunger bekommen"
Ich esse schnell eine volle Gabel und stelle dann mein Tablett auf meinen Nachttisch. Ich baue das Spielbrett auf und achte darauf, dass meine Figuren exakt in der Mitte ihrer Plätze stehen. Mit einer Hand würfele ich und mit der anderen spiele ich immer noch an dem Gummiball.
"Was hast du den Tag über so gemacht?", frage ich.
"Ich war hier und da. Der Eingangsbereich und die Clubräume sind randvoll, ich hätte nie gedacht, dass es im Hotel noch mehr nach Alkohol riechen kann", sagt sie und verzieht das Gesicht, "Ich dachte deswegen bist du den ganzen Tag auf deinem Zimmer geblieben"
"Das auch. Das Wetter ist einfach beruhigend. Ich könnte noch den ganzen restlichen Tag und die Nacht vor dem Fenster sitzen und auf die Poolanlage sehen"
Sie sieht aus meinem Fenster und nickt nur nachdenklich. Wir schauen wieder auf das Brett und spielen weiter. Ich bemerke, wie ihr Blick zu dem Gummiball in meiner Hand gleitet, doch ich lasse mir nichts anmerken.
"Den Ball hast du von Chishiya, stimmts?"
"Ja, wieso?"
"Ich habe ihn bei ihm gesehen und dachte mir schon, dass er nicht für ihn selbst ist"
Sie lacht leicht und ich beiße mir auf die Unterlippe. Ich verkneife mir schon seit zwei Tagen, das Thema Chishiya bei ihr anzusprechen. Wenn jemand weiß, weshalb sich Chishiya so verhält in den letzten vier Tagen, dann sie.
"Weißt du was mit ihm los ist? Ich meine ob ich etwas falsches gesagt habe oder er wütend wegen etwas ist", frage ich vorsichtig.
"Was meinst du?"
An ihrer Stimmlage erkenne ich, dass sie mir helfen möchte aber anscheinend nicht versteht, was ich meine. Ich denke nicht, dass Chishiya ihr von dem Inhalt unseres Gesprächs erzählt hat, also bin ich ein wenig wählerischer mit meiner Wortwahl.
"Seit ihr zusammen hier wart haben wir uns nicht mehr gesprochen. Gestern haben wir uns im Gang gesehen, aber ich glaube er hat mich ignoriert"
"Naja wir reden hier von Chishiya", lacht sie, "Er tickt anders als die Meisten. Normale Menschen denken mit ihren Instinkten und Emotionen, er denkt einfach nur logisch. Manchmal bin ich mir nicht einmal sicher, ob er fühlen kann wie wir"
Das habe ich mir ja gedacht, aber trotzdem suchte ich akribisch nach einer Antwort. Dabei ist es einfach seine Eigenart. Kuina scheint zu merken, dass ich wieder in Gedanken versinke und nimmt meinen Arm.
"Versuche nicht ihn zu verstehen, dabei zerbrichst du dir nur den Kopf. Und mach dir keine Sorgen, irgendwann redet er schon wieder mit dir"
"Woher weißt du, dass er mich nicht plötzlich so ignoriert wie alle anderen?", lache ich sie schief an, um es zu verhindern, dass sie eine leichte Sorge darin heraushört.
"Na durch den Ball", sagt sie nur uns sieht wieder zu meiner Hand. Ich folge diesmal ihrem Blick und drehe ihn leicht in meiner Hand. Ich hoffe wirklich, dass sie recht hat. Als ich wieder hoch sehe lächelt sie mich dieses Mal schief an und ich versuche mich grinsend auf unser Spiel zu konzentrieren.
"Sag mal Kuina, seit wann ist das Essen im Beach so gut?", ziehe ich meine Augen zusammen und erst jetzt bemerke ich, wie lecker das Gulasch eigentlich schmeckt.
"Bei einer Besorgungstour haben sie einen Mann aufgelesen, der ein Koch ist. Es soll sogar sein eigenes Restaurant gehabt haben", sagt sie und es scheint ihr genauso gut zu schmecken wie mir.
"Hoffen wir mal, dass er vorerst am Leben bleibt", bemerke ich mehr als einen schlechten Witz zu reißen. Das Essen sonst hat eher wie eine Pampe ausgesehen, weswegen ich mich an Jogurt, Früchte und Eis gehalten habe. Aber wenn es jetzt dieses Essen gibt, muss ich mich wohl oder übel aus meinem Zimmer in die überfüllte Kantine quälen.
"Wann spielst du wieder Sayuuri?"
"Ich denke in vier, spätestens fünf Tagen. Ich hoffe mal das ich bis dahin wieder voll funktionsfähig bin"
Wir spielen weiter und als ich ihren konzentrierten Gesichtsausdruck erkenne beschließe ich, sie gewinnen zu lassen. In den letzten Tagen habe ich immer gewonnen und ich kann mich noch gut darin erinnern, wie ich es gehasst habe bei Spielen gegen meine Eltern zu verlieren. Sie scheint nichts zu merken und lächelt glücklich, als sie eine meiner Figuren schmeißt.
"Redest du irgendwann mit jemandem über das auf deinem Rücken?"
Sie schaut von dem Brett zu mir und ich zucke unwillkürlich zusammen. Ich reiße mich in der gleichen Sekunde wieder zusammen und greife neben mein Bett zu meinem Glas Gin.
"Vielleicht wenn das Beach seinen hauseigenen Psychiater bekommt", lache ich und trinke einen großen Schluck.
"Ich sage nicht, dass du mit mir reden musst, aber vielleicht mit Izumi"
"Ich verspreche dir, dass wenn ich den Drang verspüre darüber zu reden, ich mich jemandem anvertrauen werde. Aber nur wenn wir das Thema wechseln"
Sie sieht mich einen Moment prüfend an und dreht an ihrem Strohhalm, bevor sie nickt und sich wieder dem Spiel zuwendet. Izumi hat es auch schon mehr als einmal angesprochen und langsam werde ich wütend bei dem Thema. Ich meine, ich verhalte mich nicht verrückt oder traumatisiert. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass mich dieses Spiel mich tiefgehend emotional oder psychisch belastet hat. Das einzige, was von dem Spiel übrig geblieben ist, ist mein zerschundener Körper. Aber auch das vergeht langsam.
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Alice in Borderland
Fiksi PenggemarArakida Sayuuri wacht in Tokyo auf und kann keine Menschenseele entdecken. Sie begreift schnell die Spielregeln des Borderlands und schlägt sich immer gerade so durch, bis sie zum "Beach" gelangt. Und da scheinen ihre Probleme erst richtig los zu ge...