Konzentriert betrachten meine Augen das kühle Metall in meiner schwitzigen Handfläche und ich bin derartig fokussiert auf die Feinheiten der Oberfläche, dass sich meine Umgebung ausblendet und ich nur meinen schweren, regelmäßigen Atem hören kann. Sachte drehe ich die Platte der Hundemarke zur Seite, um das einfallende Licht durch die Fensterfront effektiv zu nutzen, um nicht alle die feine Gravur, sondern auch sonstige Einkerbungen und Kratzer aus diesem Winkel für mich sichtbar zu machen.
Mein erster instinktiver Impuls war es, dass diese Kette von Light sein muss. Äußerlich konnte ich mich kontrollieren und ruhig wirken, doch innerlich habe ich in der Gesellschaft all diese hervorragenden und tödlichen Spieler angefangen zu zittern und die Beherrschung verlieren. Ich brauchte einen Moment um mich daran zu erinnern, dass Emotionalität und Rationalität meistens zwei unterschiedliche Denkweisen und Ergebnisse mit sich bringen. Emotional gesehen gibt es keinen Zweifel daran, dass diese Kette die eines Menschen ist, welchem ich vor dem Borderland nahe stand. Wie hätte ich reagiert, wenn ich bei diesem Gedanken geblieben wäre, wie reagiert man, wenn ein Mensch, welcher wehrlos vor einem sitzt einen Menschen getötet hat, in den man verknallt war?
Rational gesehen ist es jedoch nur eine unwahrscheinliche Theorie:
Sprechen wir einen Punkt meiner Gedankengänge flüchtig an, um ihn danach gleich außer Acht zu lassen und zu verwerfen: Die Wahrscheinlichkeit, dass man im Borderland landet, ist unberechenbar. Faktoren wie die allgemeine Population in diesem Land, Ursachen der Spielerauswahl und sämtliche Vorgänge in diesem parallelen Tokio sind unbekannt und nur schätzungsweise zu behandeln. Gehe ich davon aus, dass ich in meiner Zeit hier zwei Personen - Norikita und meinen Onkel - getroffen habe, tendiert diese Schätzungsvariable in sehr niedrigen Bereichen. Aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet Light im Borderland landet und seine Kette als Trophäe einer abscheulichen Tat in der Zeit in diesem Hotel landet, nachdem ich erst vor kurzem ein Teil der Führungsriege wurde.
Es gibt andere Gründe, weshalb ich meinen ersten Impuls in Frage stelle. Obwohl ich mich den größten Teil meines Aufenthaltes im Borderland in dem Beach aufgehalten habe, plane ich zeitnah von hier zu verschwinden. Ich lasse nicht nur das Schlechte wie den Leichenberg in den Containern hinter dem Hotel oder die steigende Gewalt zurück, sondern auch Menschen, welche mir ans Herz gewachsen sind. Die Wahrheit ist, ohne diese Gemeinschaft in dem Hotel hätte ich es niemals so weit gebracht.
Es ist gut möglich, dass ich innerlich noch nicht bereit bin es zu verlassen und einfach nur einen Grund suche, noch ein wenig länger hier zu verweilen und diese Kette liefert mir eine Chance.
Zudem bin ich schon lange in diesem parallelen Schattenland unterwegs. Die Erinnerungen an mein früheres Leben, meine Familie und meine Freunde, rücken Tag für Tag nach hinten und verblassen in einem Abschnitt meines Lebens. Nach diversen traumatischen und kopfzermarternden Ereignissen im Borderland kann es gut sein, dass mein Verstand mir mit dem Bezug zu meinem früheren Leben einen Streich spielt. Das menschliche Gehirn ist darauf eingestellt Schutzmechanismen im Notfall einzuschalten, ohne dass wir es mitbekommen.
In meinen Praktika am Landgericht habe ich Fälle gesehen, in welchen Menschen durch frühere traumatische Erlebnisse eine zweite Persönlichkeit entwickelt haben, welche die Hauptperson geschützt haben und in Gefahrensituationen hervorgetreten sind, ohne das Bewusstsein desjenigen. Auch gab es Fälle, in denen Zeugen einen Blackout hatten, da ihr Gehirn sie nicht verarbeiten gelassen hat, was sie tatsächlich gesehen haben, weil sie damit nicht fertig werden würden. Das Gehirn ist ein interessanter Mechanismus und ich kann nicht ausschließen, dass es niemanden beeinflusst.
Klar, manche dieser Spieler und Bewohner des Borderlands waren schon vorher belastet, doch bei manchen hat es etwas ausgelöst. Und ich halte mich nicht für eine Ausnahme, weshalb ich dies mit einberechne. Ich sollte mich ruhig verhalten, bis ich wirklich sicher und überzeugt bin.
DU LIEST GERADE
Alice in Borderland
FanfictionArakida Sayuuri wacht in Tokyo auf und kann keine Menschenseele entdecken. Sie begreift schnell die Spielregeln des Borderlands und schlägt sich immer gerade so durch, bis sie zum "Beach" gelangt. Und da scheinen ihre Probleme erst richtig los zu ge...