ONE

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Mit immer wieder aufeinanderfolgenden Schlägen traf er das schwarze Leder. Durch den Raum ging ein angestrengtes Keuchen, schallte an den Wänden ab. Inzwischen war sein ehemals graues T-Shirt dunkelgrau, durch den Schweiß, der seine Haut benetzte. Sein Blick hing die ganze Zeit auf dem Sandsack, der vor seinen Augen hing. Durch die Kraft in den Schlägen dürfte dieser bald den Weg zum Boden finden. Er hatte schon vor ein paar Stunden das Zeitgefühl verloren, sich nur noch auf das Training konzentriert.
Er atmete noch ein letztes Mal tief ein und aus, ehe er den letzten Schlag legte und der Sack mit einem lauten Geräusch auf den Boden klatschte. Angespannt ließ er seine Schultern kreisen und streckte sich kurz, ehe er zu der Bank lief, um sich sein weißes Handtuch zu schnappen.

Seine Augen wanderten zur Uhr, die nur wenige Meter über ihn hing. „4.30 Uhr", murmelte er leise vor sich hin. Der Braunhaarige seufzte erschöpft und setzte sich hin, das Handtuch um seinen Nacken legend. Wieder einmal hatte er bis spät in die Nacht die Fäuste fliegen lassen. Dabei hatte er nicht mal einen bestimmen Grund dazu. Er wollte einfach ein bisschen trainieren. Dass es so ausarten würde, hatte er nicht gedacht. Aber mittlerweile wunderte es ihn nicht mehr.

Nachdem er sich sein Trinken schnappte, hörte er, wie die Tür sich öffnete. Anhand der Schritte wusste er auch schon sofort, wer da gerade den Raum betrat. Somit war er auch nicht verwundert, als er in die grau-blauen Augen Levis blickte. Dieser sah abschätzend auf den Jüngeren herab und ließ sich schließlich neben ihn nieder, sein Blick durch die Halle wandernd. „Gibt es einen Grund, warum du wieder so lange gemacht hast?", sagte er mit einem schrofferen Ton, während seine Augen kurz zu Eren rüber schwenkten. „Nein, gibt es nicht. Denke, ich wollte einfach etwas Druck abbauen", antwortete der andere und wischte sich mit seinem Handrücken den Mund ab. Levi brummte verstehend. „Jedenfalls... Geh duschen, du stinkst nach Schweiß." Aus Erens Mund kam ein kurzes Auflachen. „Natürlich rieche ich. Ich habe immerhin stundenlang trainiert", erwiderte er, hob eine Augenbraue.
Der Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. „Wie auch immer. Gehst du später wieder zu Hanji?" – „Ja", in seiner Stimme lag ein lustloser Ton. Er hatte keine Lust, sich mit der Braunhaarigen zu treffen. Nicht aus dem Grund, dass er sie nicht mögen würde – denn das tat er. Vielmehr aus dem Grund, dass er wusste, worauf sie hinauswollte. Und Eren konnte offen sagen, dass diese Art von Gespräch nicht nötig sei. Doch wie er sie kannte, bestand Hanji darauf. Es gab nichts, worüber sie sich unterhalten könnten.

...

Er schaute auf die beiden dampfenden Kakaotassen, die vor seiner Nase standen. Das Heißgetränk schien ihn förmlich anzulächeln, aber er wollte nicht. Auch wenn er bereits wusste, dass Hanji bei etwas ernsteren Geschichten immer Kakao oder Tee machte. Er konnte sich schon denken, was diesmal Thema war. Und er würde momentan viel lieber andere Dinge tun, als in diesem Moment mit der Braunhaarigen in einem Raum zu sitzen.

„Eren...hörst du mir überhaupt zu?", drang es die warme Stimme Hanjis durch. Eren sah auf und schaute in das besorgt aussehende Gesicht. Er verdrehte die Augen und sah zur Seite, stemmte sein Kinn auf der Faust ab. Sie seufzte wissend. „Eren, bitte. Das ist wichtig." – „Ich weiß nicht, warum das hier wichtig sein soll. Ich habe nichts, worüber ich mit dir reden muss", brummte er. „Ich weiß, wie du darüber denkst. Es mag dir vielleicht nicht viel bedeuten, aber für mich ist es wichtig. Ich will nur mit dir reden, das ist alles." Der Braunhaarige schnalzte mit der Zunge, ehe er mit einem scharfen Blick zu Hanji schaute. „Na schön, dann fang an", Eren überschlug die Beine und setzte einen emotionslosen Blick auf. Dabei bemerkte er aber nicht das kleine Funkeln in Hanjis Augen.
So wie Eren da gerade saß, erinnerte er sie an jemanden. Jemanden, der auch immer so schaute und die Beine überschlug, wenn er wusste, dass die Unterhaltung länger dauern würde. Und sie konnte nicht leugnen, dass ihr das in gewisser Weise sowohl Sorgen als auch Freude bereitete.

„Du scheinst heute sehr gereizt. Ist heute wieder der Tag?", diesmal war sie vorsichtig mit dem, was sie fragte. Sie wollte Eren keinesfalls verschrecken, denn sie empfand es als wichtig, dass er jemanden zum Reden hatte. Denn die Braunhaarige wusste, er würde es sonst nicht tun. Eren hatte sich diese Sache angewöhnt, dass er seine wahren Gedanken mit keinem mehr teilte. Es war klar, dass das nicht gut für ihn war. Denn irgendwann war das Fass voll und es würde überlaufen.

Anhand des Blickes Erens konnte Hanji ausmachen, dass sie recht hatte. Heute war es genau ein Jahr her. Es war genau ein Jahr her, dass der Braunhaarige seinen besten Freund erschoss. Dieser eine Tag änderte alles. Eren änderte sich. Es war, als wäre er jemand komplett anderes. Als hätte er einen Schalter umgelegt. Und dass das nicht weit hergeholt war, war ihr klar. In den vergangenen Monaten sah sie Eren an, an was er dachte, wie er über sich dachte. Er akzeptierte sich selbst nicht mehr. Er dachte, er könnte somit die Schuld abladen, wenn er versuchte jemand anderes zu sein. Ein anderer Eren zu sein. Aber wusste sie auch, was wirklich in seinem Kopf vorging?

Eren selbst wusste es nicht. Er merkte nur, wie von Zeit zur Zeit das Gewicht auf seinen Schultern leichter wurde. Er kam klar. Nicht einmal hatte er hinterfragt, warum das passierte. Er nahm es hin, begrüßte es unbewusst. Anstatt seinen Blick auf die Vergangenheit zu richten, schaute er nach vorne. Dabei war jedoch noch ein Teil seines alten Ichs, was die Taten des neuen Eren nicht verstehen konnte. Er war der Überzeugung, dass Eren sich bis an sein Lebensende schlecht fühlen müsse, damit Armins Tod gerecht würde. Doch es passierte nicht. Aus irgendeinem Grund fühlte Eren sich nicht mehr so schuldig, wie er es tun müsse. Und wenn er damals so darüber nachdachte...

„Du kannst es nicht mehr ändern! Du bist zum Mörder geworden, an dir klebt Armins Blut! [...] Finde dich damit ab!" Die Worte Levis hallten in seinem Kopf. Es war dieser eine Moment, der in Eren etwas auslöste, was er selbst nicht benennen konnte. Aber er erinnerte sich an das Gefühl, als der Schwarzhaarige nur wenige Centimeter vor ihm stand, ihn gegen die Wand drückte und ihm diese Worte entgegenbrachte. Er erinnerte sich an die Gänsehaut, die an seinem ganzen Körper hinunterlief. An seinen stockenden Atem, als er in die grau-blauen Augen blickte. Ganz tief in seinem Inneren glaubte er, etwas in ihnen gesehen zu haben, was kein anderer zuvor sah. Es lief auf Dauerschleife in seinem Kopf auf und ab.
Und je mehr er darüber nachdachte, desto mehr war er der Überzeugung unterlegen, dass alles so sein sollte. Er begann zu glauben, dass das sein Schicksal war. Immer mehr erschien ihm der Gedanke, dass Levi ihm nur den Spiegel vorgehalten hatte, als unvermeidlich – als realistisch. Er war kein normaler Mensch mehr. Diesen Titel legte er bereits ab, als er die Waffe in die Hand nahm. Was zählte der Glaube anderer, wenn man nicht mal mehr an sich selbst glaubte?

„Es muss doch unerträglich sein, diese Maskerade jeden Tag zu tragen", sprach sie nach einer Weile. Und in dieser ganzen Zeit, die eigentlich nur knappe fünf Minuten waren, merkte sie es. Sie merkte, dass ihr Gegenüber längst nicht mehr in diesem Zimmer war. Mittlerweile war es so weit, dass sie Erens Gedankengänge in ihrem Kopf hörte. Doch die Frage blieb dieselbe: Wusste sie wirklich, was los war?

Auf die Worte Hanjis erwiderte er nichts, ging gar nicht darauf ein. Würde er dies wieder kommentieren, würde er auch in zwei weiteren Stunden nicht von diesem Sessel aufstehen können. Und darauf konnte er verzichten. Er wollte gerade nichts lieber tun, als wieder im Zimmer zu sein. In seiner Nähe zu sein. Auch wenn dieses Bedürfnis ihm nicht besonders bewusst war.

Personalities [Ereri/Riren]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt