54. Kapitel - Der Palantír und seine Folgen

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Als ich Schritte auf mich zukommen hörte, öffnete ich meine Augen und setzte mich auf. Bevor Éomer ganz bei mir war, griff ich nach meinem Bogen samt Köcher sowie Schwert. Anschließend trafen sich unsere Blicke und ich nickte als Bestätigung, dass ich nun mit der Wache an der Reihe wäre.
Schnell vertrieb ich die Müdigkeit und darauf bedacht, dass ich Legolas neben mir nicht weckte, stand ich auf. Der Elb schlief tief und fest, sah friedlich aus. Ich musterte ihn flüchtig, als ich mir meinen Bogen und Köcher auf den Rücken schnallte, und musste zugeben, dass er süß aussah.
Wenn ich nun fies sein wollte, könnte ich sagen, dass er mich so nicht nervte, doch dann würde ich bloß Legolas' Spruch benutzen, den er immer für mich verwendete.

Viel zu oft...

Als ich mein Schwert um die Hüfte geschnallt hatte, schlenderte ich hinüber zu den Hängen, wo Éomer wartete. Ich zog meine Kapuze des Elbenmantels in mein Gesicht, schlich von den Schlafenden fort. Das grau erscheinende Gras unter meinen Füßen war feucht, die Umgebung wurde vom kalten Mondschein erleuchtet und die Bäume und Büsche warfen die Schatten der Nacht.
Mit meinen Ohren konnte ich das weit entfernte Rauschen des Isens hören sowie die gleichmäßigen Atemzüge der Menschen - vor allem die vom werten Herr Zwerg Gimli.
Ich kam beim Pferdeherren an, dessen Kettenhemd den Mondschein reflektierte. Es funkelte wunderschön dahin, und als der Mensch zu sprechen begann, fiel blasses Mondlicht auf sein Gesicht: »Nun, ich werde die Westseite übernehmen. Im Osten und Norden sind bereits Wachposten. Du übernimmst den Süden. Wenn etwas Auffälliges deine Aufmerksamkeit erregt, stoße einen Ruf aus.«
Ich nickte, darauf trennten sich unsere Wege. Der Mensch ging in den Westen einen kleinen Hang hinauf, wobei sein Kettenhemd leise klirrte, und ich ging in den Süden, wo die Pferde standen.
Auf leisen Sohlen, ohne jegliches Geräusch zu verursachen, erklomm ich einen kleinen Hang. Kühler Wind wehte mir ins Gesicht, kam von Südwesten und näher an der Küste würde er einen salzigen Geruch mit sich tragen.
Ich musste an die Westlande denken, an all die Elben, die schon hinübergesegelt waren, die der Sehnsucht in ihrem Inneren nicht mehr widerstehen hatten können. Eine Sehnsucht, die auch ich spürte, die in jedem Elb und in jeder Elbin verankert war. Es war wie ein Ruf des Herzens, als würde im Westen ein Teil von sich selbst warten.
Doch auch spürte ich die Sehnsucht nach dem Düsterwald in mir und ich war mir gewiss, dass ich noch nicht bereit war, Mittelerde zu verlassen.
Durch diese Reise waren mir ein paar Sterbliche ans Herz gewachsen.
Mir wurde mein Herz schwer, wenn ich daran dachte, dass sie nicht ewig durch diese Welt wandeln würden. Ich musste es jedoch akzeptieren, dass sie sterblich waren. Etwas, das ich zum Teil ebenso in mir spürte; denn als Halbelbin hatte ich die Möglichkeit, mich zwischen beiden Leben zu entscheiden.
Natürlich würde ich mich für das der Elben entscheiden, da ich sonst alle, die ich liebte, zurücklassen würde. Vor allem konnte ich mir kein Leben ohne Legolas vorstellen.
Nie.
Zwar waren wir im Krieg und die Hand des Todes war über unseren Köpfen; dem Tod aber würden wir die Stirn bieten, denn die Hoffnung war auf unserer Seite.

In Gedanken versunken, beobachtete ich meine Umgebung, die farblos und ruhig erschien. Die Zeit verging.
Auf dem Hang konnte ich über die Ebene Rohans blicken und meine Augen vermochten bis in große Entfernungen zu sehen. Meine Ohren vernahmen keine auffälligen Geräusche und nur das Gras und die Zweige, die im Wind seufzend tanzten, waren zu hören. Auch das gelegentliche Schnauben der Pferde, während ich den Hang entlangschritt.
Die Stille der Nacht hüllte mich ein. Nach einer Stunde war meine Müdigkeit komplett verflogen. Ich war fokussiert und kam an einem großen Baum vorbei. Neben ihm blieb ich stehen, legte meine rechte Hand auf seinen Stamm.
Die raue Rinde drückte sich in meine Handinnenfläche und ich blickte nach oben. Es war ein alter Baum. Seine Zweige ragten hoch empor, zumindest hoch für seine Umgebung; hier wuchsen die Bäume nicht allzu hoch.
Trotzdem konnte ich den Geist des Baumes hören, wie er seine Geschichte erzählte. Sein Weg von einem Sprössling zu seiner heutigen Größe hatte mehrere hundert Jahre gedauert, dennoch konnte sich der Baum an sie erinnern.
Als älteres Wesen stand ich jedoch vor ihm und es kam mir so vor, als ob er es spürte. Eine Art Respekt, Bewunderung für die Elben konnte ich in ihm hören. Ebenso eine Sehnsucht, in einem richtigen Wald zu stehen, sich mit seinen Artgenossen im Wind zu bewegen und hoch gen Himmel zu wachsen. Er hatte Träume, aber auch genoss er den Blick über die Ebene Rohans, die er bis ans Ende seiner Zeit spüren würde.
Ich atmete die Nachtluft ein. Sie erfüllte meine Lungen. Es lag eine Frische in ihr, die sich noch am Winter festklammerte. Der Frühling war aber unaufhaltsam auf seinem Weg in die Welt und bald würde er das kahle Land in seine Farben tauchen. Farben des Lebens, die von Mutter Natur kamen.
Auch im Düsterwald müssten bereits die Blätter an den Bäumen wachsen. So gern würde ich dies Schauspiel beobachten können, obwohl ich es schon unzählige Male getan hatte. Mir gefiel es zu sehen, wie die Natur aus ihrer Winterstarre erwachte.
Nun konnte ich bloß den Baum vor mir beobachten. Ich strich ihm über seinen Stamm und flüsterte Worte des Abschieds: »Navaer« (Auf Wiedersehen), dann ging ich meinen Weg weiter, der mich den Hang hinauf, dann wieder hinab führte.

Lithil - gwend en lóre | Legolas Ff ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt