Ich verließ die Halle, verabschiedete die Palastwachen vor dem großen Tor, dann setzte ich meinen Weg fort. Meine Füße trugen mich zurück in das Stockwerk, in dem sich mein Gemach befand. Kurz musste ich mich davon abhalten, in die Bibliothek zu gehen; dort wäre ich nicht mehr herausgekommen. Ebenso würde ich kein Buch auf eine Reise mitnehmen, da diese kostbar waren.
Wenig später öffnete ich daher die Türe meines Gemachs, und weil ich nicht wusste, was ich mit mir anfangen sollte, beschloss ich, zu trainieren. Ich schritt an mein Bett heran, wo meine Waffen auf mich warteten. Ich schnallte mir mein Schwert und die zwei Dolche um meine Hüfte, griff ebenfalls nach meinem Bogen und Köcher. Zuvor flocht ich mir meine Haare zu einem einzelnen Zopf, da offene Haare unpraktisch zum Trainieren waren. Bewaffnet verließ ich mein Gemach, dann schritt ich nach draußen.
Vor dem Palast entdeckte ich ein paar Elbinnen, die an Bildern malte. Andere Elben kümmerten sich um die Pflanzen, die neben dem Palast wuchsen. Trotz, dass wir Waldelben in einem großen unterirdischen Komplex lebten, der in einen Berg hinein gebaut worden war, hieß das nicht, dass das Elbenvolk seiner Liebe zur Natur und Kunst keinen freien Lauf ließ.
So verweilte ich eine kurze Zeit neben den Frauen, sah zu, wie sich die Pinsel geschmeidig über die Leinwände bewegten. Ich lobte ihre Werke und war neidisch. In der Kunst hatte ich noch nie eine Begabung meinerseits feststellen können, wenn man die Kampfkunst nicht in Betracht zog.
Ich spazierte ein paar Augenblicke später an der inneren Mauer entlang, entschloss, den Wachen einen Besuch abzustatten. Gewiss hatte ich neben Legolas noch andere Bekanntschaften im Palast und oben auf der Mauer erblickte ich einen mir bekannten Elben. Fëanor war bereits seit meinem ersten Tag im Palast immer auf den Mauern zu finden. Er war ein großer Krieger. Neben mir war er ebenso ein Kommandant einer Truppe, und ich verstand mich gut mit dem Elben.
»Ein wahrlich schöner Tag«, grüßte ich den Elben, als ich zu ihm herangetreten war. Er nahm den Blick vom Norden und wandte sich mir zu. Seine dunklen Haare waren der elbischen Art gerecht geflochten. Seine braungelben Augen hielten viele Geheimnisse in sich. Wie alle Elben hatte er ein zeitloses Gesicht und man konnte ihm sein wahres Alter nicht ansehen.
»Die Wahrheit sprichst du, Lithil. In den Bäumen scheint heute noch ein letzter Hauch des Sommers wieder erwacht zu sein.«
Ich stützte meine Ellenbogen auf der Mauer ab, sah hin nach Norden, wo in der Ferne eine zweite Mauer war. In der Mitte dieser Mauern befanden sich kleine Siedlungen vom Elbenvolk und ebenso die Weiden für unsere Pferde. Diese Gegend hielt weniger Bäume in sich, trotzdem standen wahrliche Giganten auf der Ebene.
»Und deswegen ist es ein herrlicher Tag, um zu trainieren«, sagte ich nach der kurzen Stille, wandte mich dem Elben zu, »Gibt es sonst Neuigkeiten?«
»Nun« fing er an, »gestern haben Posten wieder ein Spinnennest entdeckt. Diese Kreaturen werden immer aggressiver. Dunkle Zeiten drohen, uns zu überschwemmen. Aber abgesehen davon, ja, ein guter Trainingstag. Du könntest jedoch auch eine Wache abhalten, wenn dich der deine Weg bereits hierhergeführt hat.«
»An meinem freien Tag?«, fragte ich lachend, »Morgen steht eine wichtige Reise an. Trainieren muss ich für diese, um der Dunkelheit zu trotzen.«
Ich richtete mich auf. Eine Windböe fuhr über die Mauer, dann setzte ich fort: »Aus diesem Grund wird dies nun zu einem Abschied. Viel steht an und ins entfernte Imladris reist man nicht alle Tage!«
Nach diesen Worten verließ ich die Mauer wieder. Ich konnte spüren, wie Fëanor seinen Kopf schüttelte, doch dass dies das letzte Gespräch mit dem Elben für eine lange Zeit sein würde, wusste ich in diesem Augenblick nicht.Ich setzte meinen Weg fort, ging durch die erste Mauer und ein paar Wege entlang. Wenig später bog ich den Wald am Rand ein. Sofort spürte ich die Kühle der Schatten auf mir. Auch roch die Luft frischer und ich füllte meine Lunge mit dieser Herrlichkeit. In einer Baumkrone entdeckte ich ein Eichhörnchen. Mit einem Lächeln beobachtete ich, wie es von Ast zu Ast sprang, bis es aus meiner Sicht verschwand.
Ich setzte mich nach dieser wunderbaren Begegnung wieder in Bewegung, folgte den natürlichen Pfaden des Waldes. Immer tiefer drang ich in den Wald ein und bald kam ich zu einer der Quellen des Düsterwaldes. Neben mir vernahm ich das Rauschen eines Wasserfalls. Kurz verweilte ich auf einem Hang und blickte hinunter in einen kleinen See. Das Wasser war glasklar. Einige rote Blätter schwammen auf der Wasseroberfläche. Wäre es wärmer gewesen, hätte ich mit dem Gedanken gespielt, im See zu baden, aber so verblieb es bloß bei einem Blick.
Eine Zeit stand ich an Ort und Stelle, verlor mich im Anblick von Mutter Natur. In solchen Momenten war ich meiner elbischen Seite ganz nahe, auch wurde das Flüstern der Bäume lauter. Sie luden mich ein, ihren Geschichten zu lauschen, doch ich hatte bereits ein Ziel.
Ich riss meinen Blick vom Wasserfall und wanderte zu meinem ganz persönlichen Übungsplatz, gut, nicht ganz so persönlich, denn eigentlich hatte ich einmal keine Ahnung gehabt, dass es diesen überhaupt gab. Legolas hatte mir ihn gezeigt und mir nebenbei Selbstverteidigung gelehrt, denn, als ich das erste Mal einen Fuß über die Grenzen des Waldlandreiches gesetzt hatte, war ich noch eine naive, junge Elbin gewesen, der der Umgang mit Waffen wie ein Fremdwort erschienen war. Zwar hatte ich mich schon immer danach gesehnt, selbstständiger zu werden und niemandem mehr am Rockzipfel zu hängen, doch erst im Palast hatte ich diese Freiheiten bekommen.
Legolas war mir eine große Hilfe gewesen. Ich hatte mir den dichten Schatten von der Seele geworfen und mich zur Kampfausbildung gemeldet. Es war der erste große Schritt in ein neues Leben gewesen.
Ja, der Anfang des Weges war hart und steinig gewesen, aber all dies hatte sich gelohnt. Nun stand ich hier und morgen würde ich als Vertreterin meines Volkes nach Imladris mit dem Prinzen des Düsterwaldes reisen.
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Lithil - gwend en lóre | Legolas Ff ✔
FanficKennt ihr das Gefühl, als ob die Welt plötzlich ins Wanken gerät und das Schicksal mit uns sein tägliches Spiel treibt? Die fein austarierte Balance, die bislang unser Leben im Gleichgewicht hielt, ist erschüttert. Auf einem schmalen Grat balancier...