Ein Ausflug nach Mittelerde

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"Mir ist so schlecht", würgte ich hervor und starrte panisch auf meinen aufgerissenen Kleiderschrank, "und was zieht man bitte nach Mittelerde an?"

"Keine Ahnung", jammerte Selina, "irgendetwas praktisches auf jeden Fall. Aber für welche Temperatur? Denkst du, da ist es sehr kalt? Oder gibt es da auch den Klimawandel und die haben 40 Grad im Schatten?"

Ich knabberte nervös an meinen ohnehin schon kurzgeschnittenen Fingernägeln. Ich war einfach nur überfordert. Dabei sollte ich eigentlich glücklich sein. Gandalf hatte uns - also Selina, Tom, Matteo, meinen Vater und mich - eingeladen, ihn zu besuchen. In Mittelerde.

Wir würden nach Mittelerde reisen. In eine Zeit, in der es keinen wirklichen Krieg gab.

Wir konnten uns im Auenland vollfressen, die gute Landluft genießen. Danach in Bruchtal die Wasserfälle besuchen, mit Elrond ein grünes Abendessen genießen, mit Thranduil im Waldlandreich eine Weinverkostung vornehmen...

Schon beim Gedanken an die ganzen Möglichkeiten machte mein Herz tausende kleine Sprünge. Wir würden den Traum jedes Fangirls leben!

Aber momentan beschäftigte uns die Frage nach der richtigen Ausrüstung. Schöne Sneakers oder lieber rustikale Wanderstiefel? Lange Sportleggins oder eine kurze Hose? Oder doch Skinny Jeans? Einen Anorak oder lieber eine bequeme Sweatshirtjacke?

Es sollte praktisch und bequem sein, aber auch halbwegs hübsch. Schließlich traf ich Legolas und er würde mich vielleicht auch seinen Elbenfreunden vorstellen.

"Ich glaube, so eine Thermoleggins ist noch die beste Wahl", seufzte Selina, "und ein langes Oberteil und eine dicke Sweatshirtjacke. Und Wanderschuhe. Auch wenn High Heels schon geil wären."

Bei dem Gedanken, wie meine Freundin in High Heels durch Mittelerde stolperte, brach ich prompt in einen Lachflash aus. Die Vorstellung war einfach zu viel für mich.

"Oh Gott, und am besten noch einen Minirock oder Hotpants dazu! Sämtliche Zwergentypen - und vielleicht auch Typinnen - werden augenblicklich in Ohnmacht fallen, wenn sie dich sehen!"

Das Lachen entspannte mich zum Glück etwas, und ich konnte wieder halbwegs klar denken.

Ja, Selina hatte recht. Leggins und Jacke und dazu Wanderstiefel waren wohl die beste Wahl.

"Und wenn wir doch mal feiern gehen, muss uns Arwen halt ein Kleid leihen", meinte ich lachend, "dann sind wir auch mal richtig schön!"

"Ja, und sie kann uns dann noch Frisuren machen", schwärmte Sel, "und dann machen wir Bilder, die wir auf Insta posten können!" 

„Gute Idee. Aber jetzt sollten wir uns langsam wirklich richten.", stimmte ich zu und schielte kurz auf mein Handy, „Gandalf holt uns in fast genau zwei Stunden ab und wir müssen noch die Gastgeschenke richten!"

Der Zauberer würde als einziger der Mitties zu uns kommen und uns in den Wald führen, wo eine Art Portal lag, die Mittelerde mit unserem stinklangweiligen Dorf verband. Dort, wo wir Bilbo und Legolas das erste mal getroffen hatten und der arme Hobbit beinahe von meinem Mountainbike überrollt worden war.

„Ich hole schnell meine Sachen", meinte meine Freundin eilig, „fang am besten schon mal mit den Geschenken an!"

Ich nickte zustimmend und begleitete meine Freundin noch zur Haustür, ehe ich mir die Liste schnappte, auf der Selina, Tom, Matteo und ich Geschenkideen für unsere Freunde und deren Familie zusammengesucht hatten.

Für Thranduil gab es – wie sollte es anders sein – einen Karton Südtiroler Wein, den wir ihm im letzten Urlaub dort gekauft hatten, sowie ein neues Kochbuch, das auf vegane Ernährung spezialisiert war.

Legolas bekam ein riesiges Poster von sich selbst, das er sicher gern über seinem Bett im Waldlandreich aufhängen würde, und einen neuen dunkelgrünen Hoodie, da sein bisheriges Exemplar leider bei einem seiner Stunts zerfetzt worden war und er den flauschigen Stoff schmerzlich vermisste.

Tauriel würde stolze Besitzerin eines 20-Kilo-Zartbitterschokoladenvorrat werden, den mein armer großer Bruder nach Mittelerde transportieren musste. Aber für seine Traumfrau, pardon, Traumelbin, würde er wahrscheinlich auch Azog persönlich Huckepack nehmen.

Lerina, die ja bei ihrer Mutter in Mittelerde lebte, würde von uns ein Malbuch sowie Gummibärchen und einen Teddy bekommen.

Für Thorin und hatten wir einen riesigen flauschigen Teppich bei IKEA gekauft, da sich Bilbo bei unserem letzten Besuch über die dauernd kalten Böden im Erebor beschwert hatte und der Zwergenkönig es nicht leiden konnte, wenn seinem Hobbit etwas fehlte. Für Bilbo gab es außerdem eine Packung Zigaretten, da er unbedingt einmal deutsches Kraut rauchen wollte. Cannabis war ja leider noch nicht legalisiert, sodass wir wohl oder übel auf den klassischen Tabak zurückgreifen mussten, was mit Pfeifenkraut ja wohl eher weniger zu tun hatte. Aber das musste Bilbo ja nicht wissen.

Fili erhielt von uns eine Babyerstausstattung, bestehend aus einer riesigen Packung Premium Windeln von Pampers, ein paar süßen Kuscheltieren und einer warmen Decke. Ja, der Zwergenprinz würde in kurzer Zeit zum ersten Mal Vater werden.

Laut Gandalfs Berichten rollte Sigrid bald durch den Erebor, so kugelrund war ihr Bauch bereits und der ein oder andere Heiler vermutete, dass Thorin bald Großonkel von Zwergenzwillingen sein würde. Für den Fall, dass es zwei Prinzen werden würden, hatten Sel und ich schon beschlossen, dass es unbedingt nötig war, Sigrid und Fili zu überzeugen, die beiden Fred und George zu nennen. Das würde doch wie die Faust aufs Auge passen!

Für Kili hatte Selina vor allem eines besorgt – Essen. Und zwar einen riesigen Geschenkkorb voller Schokolade, Keksen, Gummibärchen, Nudeln, Tiefkühlpizza und Bratwürsten.

Damit wäre der Erebor wohl für die nächste Hungersnot eingedeckt.

Gandalf erhielt großzügigerweise eine Ausrüstung für Skilanglauf, denn er hatte festgestellt, dass die Riddermark mit ihren weiten Flächen perfekt für diesen Sport geeignet war. Außerdem würde er im Winter dann viel schneller nach Rohan gelangen, als wenn er das Pferd nehmen würde.

Dis war – wie uns Kili bei seinem letzten Besuch erzählt hatte – ein echter Fan von Rockmusik. Deshalb hatten wir ihr ein Outdoor-Radio inklusive CD-Laufwerk gekauft (ja, sowas gab es noch), der sich glücklicherweise per Sonnenlicht aufladen ließ, besorgt und mein Vater hatte einige seiner alten Queen-CDs geopfert. Bald würden also Bohemian Rhapsody und We Will Rock You in voller Lautstärke durch den Erebor tönen.

Ich machte mich schnell daran, alle Geschenke zusammenzusuchen und möglichst platzsparend in einer großen Reisetasche zu verstauen. Wir mussten den ganzen Kram ja irgendwie nach Mittelerde schleppen.

Am Ende schaffte ich es gerade noch, den Reisverschluss zuzuziehen. Das ganze musste mindestens eine Tonne wiegen, aber das war mir egal. Schließlich durfte Tom das schleppen und nicht ich.

Wenig später stand auch Selina voll bepackt vor meiner Tür. Jetzt hieß es nur noch auf Papa, Matteo und Tom warten, die noch den hiesigen Aldi plünderten wollten. Falls es in Mittelerde gerade schlecht um die Ernte bestellt war, wollten wir trotzdem gut ausgestattet sein. Nicht, dass noch einer von uns auf unserem Abenteuer verhungern würde... 

Ein Mittelerdler Kommt Selten AlleinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt