- Weylyn -
Ich konnte sehen, wie sich die Gesichtszüge meines Bruders verhärteten. Dieser Teil des Waldes glich einem Schlachtfeld. Ob Schlachtfeld der richtige Ausdruck war, begann ich im nächsten Moment auch schon wieder zu bezweifeln. Diese Wölfe hatten nicht gekämpft, sie waren geflohen. Ich konnte die Angst deutlich riechen, sie hing über dieser Fläche wie eine Nebelwand. Es war ein Anblick wie jener der sich einem bot, wenn ein tollwütiges Tier eine Herde schutzloser Schafe riss. Es war animalisch und keinesfalls menschlich.
Owein betrachtete das Ausmaß, seinen Kiefer hatte er fest zusammengepresst. Noch nie in meinem Leben hatte ich so etwas gesehen, meinem Bruder schien es offenbar ähnlich zu gehen. Die Toten und ihre Verfolger stammten zweifelsfrei aus Adriks Rudel. Was um alles in der Welt hatte sie über unsere Grenze getrieben und was hatte ihre Verfolger veranlasst sie zu reißen? Welche Absichten waren hier verfolgt worden? War es eine Warnung? Alles in allem warfen sich mir nicht wenige Fragen auf.
,,Wir sollten sie begraben!", entschied Owein. Vielleicht hatten wir kein Verhältnis zu den Toten, aber sie hier liegen zu lassen oder in einem Massengrab zu verscharren, kam nicht in Frage. In dieser Ansicht unterschieden mein Bruder und ich uns nicht.
Oweins Blick fiel auf ein recht junges Opfer, meiner folgte dem seinem. Das Mädchen musste in etwa mein Alter gehabt haben, stellte ich fest. Die Augen ihres leblosen Körpers waren nach wie vor vom Schock geweitet, ihr Mund stand leicht offen. Ein besonders kräftiger Wolf musste sie getötet haben, stellte ich fest. Seine Zähne hatten förmlich Löcher in ihren empfindlichen Hals gerissen, ehe sie ihre Luftröhre zerfetzten. Ein brutaler und qualvoller Tod. Mir wurde ein wenig flau im Magen, aber ich konnte meinen Blick nicht von ihr lassen.
Unweigerlich trat ich näher an das Mädchen heran. Neben ihrem Geruch war da noch ein weiterer, ein besonders prägnanter. Auch Owein schien ihn zu riechen, es war unverkennbar der eines Alphas. ,,Adrik?", meine Stimme klang überraschend brüchig. Mein Bruder runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf: ,,Das war nicht Adrik!", war er sich sicher. Weiter schien er den Geruch allerdings nicht zuordnen zu können. Sachte schloss Owein Mund und Augen des Mädchens.
Es war ziemlich wahrscheinlich, dass Adrik einen Erben hatte. Bei dem Anblick, der sich uns bot, war es sogar mehr als nur wahrscheinlich. Es war selten, dass ein Alpha ganze Teile seines Rudels riss. Betrachtete man die Tatsache, dass es überwiegend Alte und Junge gewesen waren, die sich hier fanden, lag ihrem Tod doch ein bitterer Beigeschmack bei. Brutalität und keinerlei Reuegefühl, dass brauchte es zu so einer Tat. Adriks Erbe brachte Verderben und Tod, nichts anderes als sein Vater.
,,Hey, schau dir das mal an!", vernahm ich Randons Stimme. Owein begab sich gleich zu ihm hinüber. Kurz sah ich meinen Brüdern nach, dann erweckte erneut der Geruch des Alphas meine Aufmerksamkeit.
Ich folgte seiner Spur weiter ins dichte Unterholz. Offensichtlich schien irgendetwas die Aufmerksamkeit des Alphas erregt zu haben, mit ein wenig Glück erfuhr ich vielleicht, was es gewesen war. Kaum ein paar Schritte weiter und ein weiterer starker Geruch mischte sich zu dem seinen, ebenfalls ein sehr maskuliner. Noch ein paar Schritte weiter und ich blieb stehen. Weiter schienen die beiden Wölfe nicht gegangen zu sein, ihre Geruchsspur endete hier. Vereinzelte Blutstropfen im Laub von mindestens einem von ihnen, verrieten mir, dass sie wohl aus irgendeinem Grund aneinandergeraten waren. Aber warum?
Meine Neugier war geweckt. Leise schlich ich weiter durch das Gehölz, dann plötzlich roch ich es. Langsam näherte ich mich einem hohlen Baumstumpf. Der Geruch war schwach, wahrscheinlich war es das, was sie gerettet hatte.
Aus großen Augen blickte mich das kleine Mädchen an. Sie hatte sich mühsam in den Baumstumpf geflüchtet und schien in mir nun wohl die nächste große Bedrohung zu sehen. Für einen Moment war ich unschlüssig, was ich tun sollte. Klar war jedoch, dass ich sie weder verletzen noch töten würde. Sie war ein Kind, vielleicht zwei oder drei Jahre alt und ganz sicher weit davon entfernt mir im nächsten Moment die Kehle zu zerfetzen. Nachdem was hier passiert war, konnte ich ihre Angst verstehen. Vielleicht hatte die Kleine sogar dabei zugesehen, wie sie ihre Familie verlor. Von uns war sie jedenfalls keine.
,,Hey, ich tu dir nichts!", versicherte ich ihr, dabei bedacht auf eine ruhige Tonlage. An ihrer Haltung änderte sich jedoch nichts. Im Schneidersitz ließ ich mich nun kurz entschlossen vor dem Stumpf nieder. ,,Ich bin Weylyn und wer bist du?", startete ich einen neuen Anlauf. Neue Taktik neue Glück, doch das Mädchen blieb skeptisch.
Meine Abwesenheit hatte wohl die Aufmerksamkeit meines Bruders erregt. ,,Was tust du?", vernahm ich Oweins Stimme hinter mir. Mit einer klaren Geste bedeutete ich ihm an stehen zu bleiben, doch er tat es nicht. Das Mädchen rutschte gleich ein ganzes Stück weiter in den Stamm hinein, als nun der Alpha neben mir erschien. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er zunächst das Junge und dann mich. ,,Ich mach das schon!", versicherte ich ihm. Sein Blick blieb skeptisch, doch mit einem Nicken zog er schließlich wieder ab. Vielleicht würde sie wirklich mir am ehesten vertrauen.
Meine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf das Mädchen. Keine Sekunde schien sie mich aus den Augen gelassen zu haben und doch wirkte sie nach Oweins Verschwinden weniger ängstlich. ,,Ich werde dir nichts tun. Bei uns wird dir nichts passieren!", versprach ich: ,,Was auch immer vorgefallen ist, wir können dich beschützen!" Ich sprach lieber gleich von uns, von mir allein konnte ich es nicht behaupten. ,,Na komm, allein im Wald kannst du nicht bleiben, das ist viel zu gefährlich!", meinte ich und streckte ihr vorsichtig meine Hand entgegen. Zögerlich beäugte das Mädchen erst mich und dann meine Hand, ehe sie sich schließlich dazu entschloss, den Stamm tatsächlich zu verlassen.
Vorsichtig ergriff ihre kleine Hand die meine. Ein Lächeln schlich sich über meine Lippen, während ich ihr auf die Beine half. Ich selbst blieb zunächst sitzen, um ihr möglichst viel Sicherheit zu geben. ,,Magst du mir sagen, wie du heißt?", versuchte ich erneut mein Glück, immerhin hatte sie sich schon dichter an mich herangewagt. Sicher fühlte sie sich nicht, aber immerhin war sie auch nicht mehr völlig verängstigt. Nach wie vor skeptisch beobachtete sie mich: ,,Rose." ,,Rose, dass ist ein schöner Name!", lächelte ich, einen Kommentar bezüglich dem Verbleib ihrer Familie verkniff ich mir.

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Territory [manxboy]
Manusia SerigalaAce kannte seinen Vater nicht anders... der Alpha war herrisch und rachsüchtig. Nicht selten ließ er seinen Unmut auch an ihm aus. Als es dann auch noch zu Konflikten im Rudel kommt, beginnt die Lage allmählich zu eskalieren. Was Adrik im Zuge desse...