Odyssey

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Meine Hände zitterten, als ich auf das Grab zu ging. Ein Jahr. Ich atmete tief ein und aus. Ich hatte mich nicht getraut sie zu besuchen. Und noch immer löste sie einen gewaltigen Strudel aus Gefühlen aus, die ich absolut nicht zusammen bekam. Unsere Liebe hatte schon lange gebröckelt, aber das, es war schlimmer als eine Scheidung. Ich hockte mich vor Lauras Grab, das ich seit der Beerdigung nicht mehr gesehen hatte. Ihre Eltern pflegten es. Der Gedanke tat weh, dass sie ihr Kind verloren hatten, dass sie vor ihnen gestorben war. Da war etwas nicht richtig. Aber vor allem spürte ich eine ungeheure Wut. Sie hatte ihre eigenen Kinder im Stich gelassen. Unsere Kinder. Ich wusste nicht so recht, wie ich mich in dem ganzen einordnen sollte. Ja, ich hatte sie geliebt und ja, sie hatte auch mich verlassen. Doch wie erklärte man einem dreijährigen Kind, dass seine Mutter sich umgebracht hatte, dass sie nicht nach Hause kam. Und wie erklärte man dies später noch einmal seinem jüngeren Kind, das es noch nicht verstehen konnte. Nuppu, meine Jüngste, war nun zwei Jahre alt. Natürlich hatte sie immer wieder nach ihrer Mama gefragt. Helmi hat eine ganze Zeit kein Wort mehr gesprochen. Schließlich bin ich mit ihr zu einem Kinderpsychologen gegangen, mit dem ich schließlich auch Nuppu eine Antwort geben konnte. Und Helmi spricht wieder, sie ist fast wieder meine freudestrahlende Tochter, wie sie es früher war, doch so ein Verlust bleibt ein Leben lang. Das erste, was Helmi wieder gesagt hatte, war: „Papa, Mama ist an einer schlimmen Krankheit gestorben." Und das hatte den nächsten Gefühlsstrudel ausgelöst. Denn Recht hatte sie, und ich hatte es nicht wahr haben wollen, ebenso wie Laura. Das ganze war so verzwickt, denn das machte mich erneut wütend, hätte sie sich nur Hilfe geholt.

Ich rieb mir mit den Händen über das Gesicht, dann holte ich langsam die Kerze aus meinem Rucksack und stellte sie angezündet auf. Tief holte ich Luft. Mit weichen Knien richtete ich mich wieder auf und verließ den Friedhof wieder. Doch die Gedanken folgten mir und als ich daran dachte, bei Samu vorbei zu gehen, kamen neue dazu. Ich schüttelte den Kopf und ging weiter, bis ich bei ihm vor der Haustür stand und klingelte. Viel Zeit hatte ich nicht, denn in ein paar Stunden musste ich die Mädchen aus dem Kindergarten holen. Die Tür wurde geöffnet. „Riku", sagte Samu überrascht. „Hey", lächelte ich und merkte, wie erschöpft ich klang und mich auch fühlte. Eine Träne stahl sich aus meinen Augen. „Komm rein", meinte Samu warm, zog mich sanft ins Haus und schloss die Tür hinter uns. Er nahm mir den Rucksack ab und half mir aus der Jacke. Kurz darauf spürte ich seine Arme um mir. Seine Hand strich sacht über meinen Rücken. „Laura?", fragte er flüsternd. Ich nickte an seiner Schulter. „Ich wollte grad was essen, magst du auch was?", wollte er nach einer Weile wissen. „Gern", antwortete ich, auch wenn ich keinen Hunger hatte. Wenn Samu gekochte hatte, bekam man den. Ich folgte ihm in die Küche und ließ mich ihm gegenüber auf einen Stuhl fallen. Eilig stellte er mir Geschirr hin und lud mir eine Portion auf den Teller. Zu Beginn stocherte ich etwas in dem dampfenden Essen herum, doch es schmeckte sehr gut und regte tatsächlich den Appetit an, so dass ich irgendwann pappsatt den Teller von mir schob. „Magst du erzählen?", fragte Samu vorsichtig. „Die üblichen Gedanken", seufzte ich mit einem kurzen Lächeln. Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass wir über Laura redeten. „Ich war an ihrem Grab, hab eine Kerze angezündet", fügte ich nach einer Weile des Schweigens hinzu. „Das ist gut", sagte Samu. Ich sah zu ihm auf. „Du stellst dich dem Verlust und allem, was damit zusammenhängt. Das ist ein Verarbeitungsprozess", erklärte er. „Das klingt psychologisch", meinte ich, warf ihm jedoch ein dankbares Lächeln zu. Samu lachte leicht. „Vielleicht", grinste er. Nach einer Weile zogen wir in sein Wohnzimmer aufs Sofa um. Müde lehnte ich meinen Kopf an seine Schulter. Samu legte seine Arme um mich und verschränkte ganz vorsichtig unsere Finger. Mit klopfendem Herzen sah ich zu ihm auf. Samu schluckte und ließ meine Hände eilig wieder los. „Ist ok", hauchte ich lächelnd und kuschelte mich bekräftigend noch weiter an ihn. „Echt?", fragte Samu. „Ja", machte ich. Samus Arme legten sich enger um mich, dann verschränkte er wieder unsere Finger. „Darf ich dir was sagen?", wisperte ich und bekam augenblicklich Herzrasen. „Klar", flüsterte Samu an meinem Ohr. „Du verdrehst mir echt den Kopf, machst mich wahnsinnig, schleichst dich in meine Träume, löst bei mir Gefühle aus, die ich nicht kenne", seufzte ich und schluckte, wartete angespannt auf seine Reaktion. Seine Finger schlossen sich fester um meine Hände. „War das ...?", wisperte Samu. Ich schluckte erneut, nickte dann aber leicht. „Ich", setzte er an und ich hatte Angst, als er zunächst nicht weitersprach. „Rik?", brachte er mich dazu mich zu ihm umzudrehen. Seine Augen strahlten eine unglaubliche Wärme aus und nahmen mir etwas die Angst. Er löste eine Hand und strich stattdessen über meine Wange. Langsam kam er mir näher, bis seine Lippen sanft meine streiften. Mein Herz sprang fast aus meiner Brust. Vorsichtig erwiderte ich den Kuss. Ganz sanft küssten wir uns bis Samu sich schließlich wieder löste. Mit strahlenden Augen sah ich ihn an, war fast schon etwas enttäuscht, dass der Kuss schon vorbei war, doch Samu nahm meine Hand und legte sie auf seine linke Brust. „Du machst mich mindestens genauso nervös, ich, ich möchte dich ganz nah bei mir haben und am liebsten nie wieder gehen lassen", wisperte er. „Ich dich auch nicht", gab ich ebenso leise zurück und ließ meinen Kopf vorsichtig an seine Stirn sinken. Meine Beine legte ich zaghaft über seine. Samu lächelte, legte seinen Kopf etwas schief und küsste mich sanft, ehe er mich fest an sich zog. Eine ganze Weile saßen wir kuschelnd auf dem Sofa, doch dann musste ich mich lösen. „Ich muss die zwei kleinen aus der Kita holen", sagte ich flüsternd. „Ok", lächelte Samu. „Wir sehen uns morgen bei der Probe, oder?", fragte er. „Du kannst auch mitkommen", meinte ich, während ich aufstand. „Ähm, ja, gerne", stammelte er. So kannte ich ihn gar nicht. Doch ich musste schmunzeln, irgendwie war es niedlich, wie nervös er war, obwohl wir uns mittlerweile schon so gut kannten. Gemeinsam schlüpften wir in Jacke und Schuhe, ehe wir hinaus an die frische Luft traten. Ein kühler Herbstwind wehte durch die Stadt, trieb das erste Laub von den Bäumen. Vorsichtig griff ich nach Samus Hand und verschränkte unsere Finger. Ich liebte diese Jahreszeit. Samu drückte meine Hand und lächelte mich an. Bis zur Kita war es nicht weit. Bald bogen wir in die Tordurchfahrt ein und liefen über den Hof. Der Eingang der kleinen Kita lag hinter einer Glastür. „Hallo Herr Rajamaa", begrüßte mich eine Erzieherin. Ihr Blick wanderte zu Samu. Erst da bemerkte ich, dass ich immer noch seine Hand hielt. Ich schluckte. „Herr Haber, richtig?", lächelte die Erzieherin jedoch. Klar, sie kannte Samu, er hatte Helmi und Nuppu schon das ein oder andere Mal für mich oder mit mir abgeholt. Samu nickte und schien genauso erleichtert, als sie keine Bemerkung zu unseren verschränkten Händen fallen ließ. „Papi!", kam da auch schon meine jüngere, Nuppu, an gelaufen und streckte die Arme aus. Lachend ließ ich nun doch Samus Hand los und nahm sie auf den Arm. „Hallo Papa Samu", winkte sie dann meinem Freund. „Hey Nuppu", hob Samu grinsend die Hand und winkte zurück. Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass Nuppu ihn Papa nannte, für sie war er das wahrscheinlich sogar mehr als Laura ihre Mutter war, also klar war sie das, aber ... ach, ihr wisst schon. „Helmi, dein Vater ist da", rief währenddessen die Erzieherin nach meiner zweiten Tochter. „Wie geht es Ihnen?", wandte die Erzieherin sich zurück an uns, ich sah Samu an. „Es geht, langsam pendelt sich alles wieder ein. Allerdings weiß ich nicht, wie es sein soll, wenn wir auf Tour gehen, also wegen der Mädchen", sagte ich ehrlich. Das war eine Sache, über die ich mir schon lange den Kopf zerbrach, es aber nie ausgesprochen hatte, auch vor Samu nicht. Seit Laura tot war, waren wir nicht mehr auf Tour gewesen, doch nun war das dritte Album draußen und die nächste Tour rückte immer näher. „So lange die zwei noch nicht in der Schule sind, können Sie sie doch mitnehmen, oder?", fragte die junge Frau. Samu nickte sofort. „Mit auf eure Tour?", platzte Helmi strahlend in die Runde. „Wir besprechen das in Ruhe", lächelte ich und das Gesicht meiner ältesten verzog sich augenblicklich zu einer bockigen Miene. Doch erstmal gab es da so viel für mich zu klären. Wir packten die Mädchen in ihre warmen Jacken und verabschiedeten uns. Auf dem Heimweg fing es leicht an zu tröpfeln. Samu, der Nuppu mittlerweile auf dem Arm hatte, zog ihr ihre Kapuze auf den Kopf. Ihre Augen waren nur noch halb offen und irgendwann sank ihr Kopf gegen Samus Brust. Auf Samus Lippen lag ein leichtes Lächeln. Der Anblick erfüllte mich mit Wärme und ließ mein Herz gleich doppelt so schnell schlagen. „Papi", zupfte Helmi an meiner Hand. „Was denn?", sah ich zu ihr und schloss meine Hand um ihre. „Wieso dürfen wir nicht mit auf Tour?", fragte sie. Ich seufzte. „Weil ich Angst hab, dass ich euch auch noch verliere, wer passt auf euch auf, wenn wir auf der Bühne sind? Ich weiß, dass du schon groß bist, aber so eine Tour ist echt nicht ohne, Helmi. Im Tourbus ist sehr wenig Platz, wir fahren sehr lange, die Nächte sind unruhig. Ich glaube einfach, das ist nichts für euch", versuchte ich ihr die Situation zu erklären. „Aber Samu hat doch ja gesagt", maulte Helmi. Ich warf meinem Freund einen kurzen Blick zu. Er grinste mich schief, entschuldigend an. „Ich meinte, dass es an sich möglich ist, es würde sich eine Lösung finden", sagte Samu. „Hm", brummte Helmi, ließ das Thema damit aber zum Glück und für sie eigentlich untypisch, bleiben. Wir kamen Zuhause an. In der Wohnung befreite ich Nuppu, die schlief wie ein Murmeltier, vorsichtig aus ihren Sachen und brachte sie ins Bett. Helmi verzog sich auf ihr Zimmer und Samu und ich ließen uns auf das Sofa fallen. „Noch sind ein paar Wochen, Rik, wir finden eine Lösung", legte Samu seine Hände um meine und sah mich warm an. Ich nickte seufzend. Ich dachte an den Morgen, an Laura. Sie hatte so vieles zurückgelassen. „An was denkst du?", strich Samu, der meinen niedergeschlagenen Gesichtsausdruckt bemerkt haben musste, mir durchs Haar. Ich schüttelte den Kopf. „Erzähl", forderte er mich sanft auf. „Du wirst es nicht mögen", schüttelte ich erneut den Kopf. „Ist egal, Rik, ich komm damit klar", drückte Samu meine Hände. Er wusste, dass es um Laura ging. „Sie hat so vieles zurückgelassen, sie sieht nicht wie unsere Kinder aufwachsen, sie hat so vieles kaputt und kompliziert gemacht. Wenn sie hier wäre, ich wäre so wütend, oder naja, ich bin es so erst recht. Und gleichzeitig ist sie doch trotzdem die Person, die ich mal geliebt habe. Ich mache mir Vorwürfe, dass wir nie über ihre Krankheit geredet haben, aber sie wollte ja auch nicht und, ach verdammt, sie hätte sich Hilfe holen sollen, dann wäre sie bestimmt noch hier", redete ich mich in Rage. „Hey", nahm Samu mich in den Arm. Tränen liefen meine Wangen hinab. Ich bereute es, zu ihrem Grab gegangen zu sein. Ich hätte wissen müssen, dass damit all die Gedanken wieder kommen würden. „Rik?", flüsterte Samu nach einer Weile. Ich nickte an seiner Schulter. „Ich wollte dich heute nicht überfallen und wenn du Zeit brauchst, nimm sie dir", sagte er. Ich richtete mich auf. „Unsere Beziehung war eh kaputt, Samu. Vielleicht auch, weil, weil Laura gemerkt hat, dass ich jemand anderen lieber habe als sie. Sie wird immer ein Teil von mir sein, und da sind so viele offenen Gespräche, so viele Sachen, die ich ihr gern sagen würde, aber", holte ich Luft. Ich schaffte es nicht, den Satz zu ende zu formulieren, stattdessen legte ich meine Lippen auf Samus. Etwas überrascht erwiderte Samu den Kuss. Ich legte meine Hände an seine Hüften und ließ mich von ihm näher ziehen. Seine Hände strichen über meinen Rücken, während er seine Lippen liebevoll gegen meine bewegte. Meine Augen waren zu. Ich spürte nur ihn und all die Gedanken waren mit einem Mal fort. Vorsichtig ließ ich meine Hände unter Samus Pulli wandern, strich über seine weiche Haut und registrierte das leise Seufzen, das von ihm zwischen unsere Lippen drang. Ich hatte das Gefühl, mein Herz würde jeden Moment aus meiner Brust springen, doch als Schritte aus dem Flur drangen löste ich mich eilig. Samu lächelte liebevoll. Ich hätte mich am liebsten direkt wieder an ihn gekuschelt. Unhörbar seufzend drehte ich mich zur Tür, durch die Helmi geflitzt kam. „Papi, wann essen wir? Ich hab Hunger", rief sie. Ich musste grinsen. „Sofort", gab ich zur Antwort und erhob mich. Schweigend deckten Samu und ich den Tisch, selbst Helmi half. Wahrscheinlich wollte sie bei mir punkten, damit ich sie mit auf Tour nahm. „Wieso seid ihr so ruhig?", fragte meine älteste in die Stille, als wir uns setzten. Ich sah hilfesuchend zu Samu. Sie hatte Recht, es passte nicht zu uns. Wenn ich mit Samu zusammen war, gab es immer etwas zu reden. Vielleicht auch, weil ich diese stillen Momente, in denen wir uns scheinbar wortlos verstanden, gemieden hatte. Sie hatten mich immer nervös gemacht, doch gerade, gerade fühlte es sich einfach gut an, so richtig kann ich es nicht beschreiben. „Ich gehe mal zu Nuppu", meinte Samu und drückte kurz meine Schulter, als er an mir vorbei aus dem Raum ging. „Habt ihr gestritten?", fragte Helmi. Ihre Augen schienen jeden unserer Schritte zu folgen. „Nein, alles gut, mach dir keine Gedanken", lächelte ich. Helmi verzog kurz den Mund und sah auf ihren Teller, als überlege sie. „Ich will nicht, dass ihr streitet, weil Samu ist doch Nuppus zweiter Papi und für mich irgendwie ... auch", blickte sie wieder auf. „Wir haben wirklich nicht gestritten, Helmi. Eher im Gegenteil. Ich hab Samu ganz doll lieb", sagte ich mit klopfendem Herzen. „So wie Mama?", schaute meine Tochter mich mit großen Augen an. Ich schluckte, denn die Antwort, war, dass ich ihn noch so viel lieber hatte als Laura. Und irgendwie traf mich das gerade. „Ja", hauchte ich nickend. „Also ist er mein richtiger Papa? Zieht er bei uns ein?", war Helmi plötzlich ganz aufgeregt. Ich musste ein Grinsen unterdrücken, während ein riesiger Stein von meinem Herzen fiel. Besser hätte ihre Reaktion darauf nicht sein können. Und das freute mich ungemein. Andererseits ging heute alles so schnell, viel zu schnell. Auf so eine Frage konnte ich eigentlich noch nicht antworten. „Nicht so schnell", legte ich meine Hände um Helmis. Aus dem Augenwinkel sah ich Samu, der Nuppu an den Tisch trug und sie dann neben mich in ihren Kinderstuhl setzte. Während er sich setzte, ließ ich Helmis Hände los. „Samu, darf ich Papa zu dir sagen?", drehte sie sich zu ihm. Samu sah mich überfordert an. Ich lächelte schief und hob die Schultern. „Ja, also, klar", stammelte er. „Und du ziehst bei uns ein?", löcherte sie ihn weiter. „Erstmal nicht, so schnell geht das nicht", antwortete Samu, während er mich vollkommen überfordert und gleichzeitig fragend ansah. „Ok", gab meine Tochter etwas geknickt von sich, fing dann aber an von ihrem Tag in der Kita zu erzählen. Ich war unendlich froh, sie wieder so strahlend, lebendig zu sehen, dass für einen kurzen Augenblick alles andere in den Hintergrund rückte.

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