Kapitel 69

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Wir traten in das Zimmer ein und das Erste, was mir ins Auge stach, war Emirs Mutter im Bett, die uns mit verwirrten Blicken musterte.

Emir sah noch angespannter als vorher aus - falls das überhaupt noch möglich war - und blieb wie erstarrt am Türrahmen stehen.

Was für ein Gefühl muss es sein, die eigene Mutter seit Jahren nicht gesehen zu haben?

Wenn man nicht mal wusste, wie sie aussah? Was sie tat? Ob sie sich an ihren Sohn erinnerte?

"W-Wer seid ihr?" Ihre raue Stimme verpasste selbst mir eine Gänsehaut und ich wollte nicht daran denken, wie turbulent es in Emirs Inneren abging. Wie dreckig er sich gerade fühlen musste, weil seine eigene Mutter ihn nicht erkannt hatte.

Emir atmete laut aus, blickte dann zu mir und dann wieder zu seiner Mutter. "Du willst wissen, wer wir sind?" Seine eisige Stimme drang in meine Ohren und ich verspürte Aufregung, für das, was gleich wohl passieren würde.

Emirs Mutter setzte sich leicht auf, verzog dabei - vermutlich wegen ihren Schmerzen - das Gesicht und sah Emir an.

Plötzlich weiteten sich ihre Augen und ihr Mund klappte auf. Der Schock war ihr ins Gesicht geschrieben.

"Bu olamaz (Das kann nicht sein)."

"Beni şimdi hatırladınmı, anne? (Erinnerst du dich jetzt an mich, Mama?)"

"Ich...E-Es tut mir so Leid, ich konnte dich im ersten Moment nicht erkennen." Eine Träne lief ihre Wange runter und sie schüttelte den Kopf.

"Ist doch ganz normal, oder? Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen. Da vergisst man seinen Sohn mal." Emir lachte ironisch auf und lief einige Schritte näher an das Bett.

Ich fühlte mich fehl am Platz und überlegte, draußen zu warten, auch wenn Emir mich dabei haben wollte. Schließlich hatten sie einiges zu bereden und ich wusste nicht, wie passend ich bei dem Gespräch war.

"İ-İch wusste nicht, dass du noch lebst", waren die nächsten Worte, die Hatices Mund verließen.

(Hatice = Name der Mutter)

Emir nahm sich auf einen der Stühle neben dem Bett Platz und sah seine Mutter mit einem derartigen Blick an, der selbst mich nervös machte.

Er schüttelte seinen Kopf.

"Du liegst falsch. Ich lebe nicht, ich lebe seit Jahren nicht. Genauer genommen bin ich an dem Tag gestorben, als du mich verlassen hast!"

"Sag sowas nicht!", schluchzte seine Mutter.

"Ich habe es nicht freiwillig getan, ich musste es tun. Dein Vater hat mich-"

"Er hat was?!", schrie Emir auf einmal. "Er hat dich schlecht behandelt? Er hat dich geschlagen? Er hat was, verdammt?"

Hatice weinte noch mehr als vorher und zitterte am ganzen Leib. Und ich konnte nichts tun, außer den beiden zuzuschauen.

"Und mich hat er gut behandelt, oder was? Waren wir beide nicht immer auf einer Seite? Hatten wir nicht zusammen gekämpft?", brüllte Emir.

Er stand auf, rieb ständig seinen Nacken und schloss seinen Augen. Ich konnte nicht länger dumm stehen bleiben und zusehen, was mit meinem Freund geschah.

Ich lief die wenigen Schritte auf ihn zu und legte meine Hände an seine Wangen. "Emir."

"Emir, schau mich an. Bitte beruhige dich." Selbst meine Stimme hörte sich verzweifelt an, weil ich keine Hilfe war und mich das innerlich zerfraß.

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