Kapitel 60

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Ich wartete.

Wartete.

Und wartete.

Es schien mir eine Ewigkeit zu sein, in der ich in diesem stickigen Raum da saß und vor Aufregung fast platzte.

Die Frau war sicher keine fünf Minuten weg und doch zog sich diese kurze Zeit unnormal in die Länge.

Ich wusste nicht mehr, wie ich meine Nervosität runtersetzen sollte. Andauernd knetete ich an meinen Händen rum, strich meine Haare glatt, schaute mich in dem Raum um - obwohl es hier absolut nichts gab und wartete.

Emir.

Emir ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Wie sollte ich ihm hier von erzählen? Wie? Wann? Was sollte ich sagen?

Ich hasste es, so viele unbeantwortete Fragen in meinen Gedanken zu haben.

Ich hörte Schritte. Schritte, die näher kamen, lauter wurden. Ich hörte, wie leise etwas geredet wurde, wie Schlüssel klirrten und dann hinter mir das Tor aufgeschlossen wurde.

Oh Gott! Mein Herzschlag klopfte bis zum Hals, ich spürte, wie ich anfing zu schwitzen, obwohl es arschkalt hier drinnen war und langsam erhob ich mich von meinem Platz und drehte mich um.

Da stand er. Vor mir. Emirs Vater. Sein Erzeuger.

Der Mann, der sein Leben zur Hölle machte.

Der Verantwortliche, dass Emir Jahre lang litt und es immer noch tat.

Der Mann, der seit Jahren im Gefägnis war.

Der Mann, der sowohl Emir als auch seine Mutter grundlos schlug. Ihm Schmerzen zubereitete.

Der Mann, der vor Emirs Augen von Polizisten weggebracht wurde.

Ich schluckte schwer und merkte garnicht, wie angespannt ich war. Und doch verspürte ich in dem Moment Angst.

Dieser Mann sah so...so kaputt aus. Sein Gesicht war verziert mit Falten und doch hatte ich das Gefühl, dass diese nicht von seinem Alter kamen, sondern von all den Jahren im Knast.

Er war dünn, zu dünn für einen Mann wie ihn. Und egal wie zerbrechlich er vor mir stand oder was er hier alles erlebt hatte, ich verspürte nichts außer Hass.

Wegen ihm leidet Emir. Wegen ihm schläft er nachts nicht. Wegen ihm hatte er keine Kindheit, keine Jugend. Wegen ihm hatte er auf der Straße gelebt. Wegen ihm war seine Mutter abgehauen.

Alles war wegen diesem Mann hier.

"Wer bist du?"

Seine Stimme erschreckte mich, obwohl er kein bisschen laut sprach. Ich hatte keine Frage erwartet. Er runzelte die Stirn und kam auf mich zu.

Automatisch ging ich einen Schritt zurück und hielt mich mit Mühe auf den Beinen.

"Wer bist du?"

Wieder dieselbe Frage. Ich sagte nichts und deutete auf den Stuhl, dass er sich setzen sollte. Ich selber nahm gegenüber von ihm Platz und verschränkte meine Finger ineinander.

Ich wollte ihm so vieles an den Kopf werfen. Ihn anschreien, sogar schlagen, ihm Schuldgefühle machen.

Wo waren auf einmal alle Sätze hin, die ich geplant hatte, zu benutzen?

"Aleyna." Trocken brachte ich eine Antwort heraus. Nichts mehr als ein Flüstern.

Wieder schaute er fragend. Dieser Blick. Seine blauen Augen erinnerten mich an die von Emir. Aber es gab einen Unterschied. Wenn ich Emirs Augen ansah, fand ich sie schön, ich wollte meinen Blick nie von ihnen wenden.

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