Kapitel 6

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"Kommt nicht zu spät!", rief meine Mutter uns noch zu. "Ja, anne", sagte ich und zog Eren seine Schuhe an. Ich nahm noch meine Autoschlüssel und hakte mich bei Eren ein. Langsam setzte ich ihn auf den Beifahrersitz und ging auf meinen Platz. Ich wollte mit Eren etwas Zeit verbringen und deshalb fuhren wir in den Park.

Als wir ankamen, suchte ich einen geeigneten Parkplatz für mein Auto, da ich nicht wollte, dass Eren lange laufen muss. Ich fand schnell einen und parkte das Auto. Der Park war..überfüllt, würde ich mal sagen. Kinder rannten rum, Jugendliche spielten Fußball und und und.. Eren gefiel es, dass wir hier waren, denn er lächelte die ganze Zeit schon. "Gel canım, oraya oturalım (Komm, lass uns dorthin setzen)", sagte ich zu ihm und zusammen liefen wir auf eine Bank nahe des Spielplatzes zu.

Wir saßen ca. eine Stunde dort, spielten mit seinen Autos, lachten und hatten Spaß! Mir war es einfach nur wichtig, dass Eren auch mal aus dem Haus geht, andere Menschen sieht. "Abla, abla", sagte er und lächelte mich an. "Söyle canım", antwortete ich und erwiderte sein Lächeln. Ich wusste nicht genau was er wollte, aber als ich sah, wohin er schaute, wusste ich es. Er schaute zu einer Gruppe von Kinder, die gerade Eis aßen. Ich musste grinsen.

Eren liebte Eis. Vor allem Schokoladeeis. "Gel canım, dondurma alalım (Komm mein Schatz, holen wir ein Eis)", sagte ich und sofort glänzten seine Augen. Wir liefen zur Eisdiele rüber und stellten uns an der langen Reihe an. Ich spürte die Blicke auf uns, besser gesagt auf Eren. Können die nicht aufhören, so zu starren? Das ist ja sowas von respektlos.

"Entschuldigung. Wollen Sie bestellen?", hörte ich eine Stimme. Oh, wie peinlich! Vor lauter Gedanken habe ich gar nicht bemerkt, dass wir an der Reihe sind. "Eh, ja tut mir Leid. Also einmal Schokolade und Straicatella im Becher, jeweils einzelne Kugel bitte", sagte ich und die Verkäuferin nickte. Ich gab ihr das Geld, nahm das Eis und lief mit Eren weg. Wir setzten uns auf den gleichen Platz wie vorhin und ich fütterte Eren.

Eines der größten Probleme an Erens Krankheit war, dass er seine Hand nicht bewegen konnte. Demnach kann er nichts in seiner Hand halten, da sie gebückt an seine Brust gedrückt sind. Diese Haltung haben seine Hände schon seit Geburt. Bei seiner Therapeutin macht er immer Übungen, damit seine Arme wenigstens etwas gedehnt sind.

"Abla, b-ben t-tutca-am (Ich will es halten)", brachte Eren schwer heraus. Ich seufzte. Immer wenn wir aßen, wollte er es selbst tun bzw. wollte er nicht gefüttert werden, aber im Endeffekt weiß auch er, dass es anders nicht geht. "Ablacım. Böyle daha iyi. Hadi ye (Bruder, so ist es doch besser. Komm schon)", versuchte ich ihn zu überreden. Er schaute traurig, doch sagte nichts mehr.

Nachdem wir das Eis gegessen hatten, machten wir uns auf den Weg zum Auto. Schließlich wollte ich ihn nicht zu spät zu seinem Therapeuten bringen.

Gerade saß ich seit genau 43 Minuten im Wartezimmer und wartete, bis Erens heutige Therapiestunde endete. Ich schrieb mit den Mädels, die sich scheinbar zu Tode langweilten und etwas unternehmen wollten. Doch für die nächsten Tage kam das nicht in Frage, da ich bis Semihs 'Auszug' Zeit mit der Familie verbringen wollte. Wir schrieben noch eine Weile, bis die Tür vom Wartezimmer aufging und Frau Schmidt reinkam. Sie teilte mir mit, dass die Therapie für heute fertig war.

Am Abend saßen wir alle im Wohnzimmer, redeten, lachten und aßen Kuchen. Nur noch zwei Tage, dann würde Semih ausziehen. Ja, ich weiß. Ich rede so, als ob er für immer weggehen würde, aber Semih und ich waren noch nie für eine längere Zeit getrennt. Aber das Gute ist ja, dass er uns jedes Wochenende besuchen kommt. "Ahh baba yapma! (Papa, tus nicht!)", brach Semih meine Gedanken ab und ich schaute in seine Richtung.

Er und mein Vater 'kämpften' gerade. Bei diesem Anblick musste ich lachen. "Çakal hadi göster kendini ( Du Bengel, na los zeig was du drauf hast)", sagte mein Vater lachend und stürzte sich halb auf meinen Bruder. "Go Baba. Hadi!!", feuerte ich meinen Vater an und er lachte noch mehr.

Müde legte ich mich in mein Bett und starrte die Decke an. Wieder schweiften meine Gedanken zur Vergangenheit. Man.. Musste das jeden Abend so sein? Ich wollte nicht mehr an sie denken. Ich wollte nicht mehr schwach sein. Mein Bruder würde nicht mehr hier sein. Ich bin auf mich alleine gestellt. Ich schaffe das! Nicht weinen, Aleyna! Denk nicht an die Vergangenheit. Schau nach vorne. Ich wollte zu meinem Bruder. Schläft er schon?

Bestimmt nicht. Leise ging ich zur Tür und drückte die Klinge vorsichtig runter. Doch daraus wurde nichts denn es entstand ein lautes Knarren. Kennt ihr das wenn ihr leise sein wollt, aber dann wird es umso lauter? Ich hasse das.

Ich erreichte Semihs Zimmer und machte die Tür auf. Er lag auf seinem Bett, das konnte ich erkennen. Doch ob er schlief oder nicht, nicht.

"Semih?", fragte ich leise. Keine Antwort.

"Schläfst du schon?", fragte ich nochmal und ging näher an sein Bett. "Nein, komm her", hörte ich ihn leise sagen. Ich legte mich neben ihn und er zog mich nah an sich heran. "Was los kleine?", fragte er und schaute zu mir. "Weiß nicht, konnte nicht schlafen", sagte ich und kuschelte mich in die Decke. "Hm..aber neben mir wirds nicht gerade leichter", sagte er und ich hob fragend meine Augenbraue hoch. Was meinte er damit? Er bemerkte meinen Blick und fuhr fort. "Naja..Weißt du..So heiß wie ich bin, wird es nicht leicht einzuschlafen. Das meine ich", sagte er breit grinsend und ich schlug ihm auf die Brust. "Ach halt die Klappe und schlaf jetzt", sagte ich lachend.

"Wie sie wollen, Madame".

*

"Brauchen wir noch was? Nein das wars. Oder doch! Warte doch!", rief meine Mutter. "Anne, ich stehe neben dir und warte sowieso", sagte ich und verschränkte meine Arme vor meiner Brust. Ich sollte eigentlich zum Einkaufen gehen und das vor etwa...15 Minuten. Doch meine Mutter überlegte schon die ganze Zeit ob sie noch was brauchte. "Ayy tamam tamam. Ekmek, soğan, domates (Brot, Zwiebeln, Tomaten)", fing sie an, doch ich unterbrach sie. "Du brauchst es nicht zu wiederholen, ich weiß was ich holen muss", sagte ich, gab ihr grinsend einen Kuss auf die Wange und musste über ihren verärgerten Blick lachen.

Mit einem Einkaufswagen lief ich in Kaufland rein und holte alle Sachen, die meine Mutter wollte bzw. brauchte. Heute Abend wollten wir grillen und uns einen schönen Abend mit der Familie machen. Naja. Wie gestern halt. Ich hatte alles im Wagen und lief zur Kasse. Nachdem ich alles bezahlt und alle Einkäufe im Kofferraum verstaut hatte, startete ich das Auto und wollte losfahren, als das Auto komische Geräusche von sich gab.

Scheisse dachte ich mir. Was war das? Mein Vater muss mal ein Blick darauf werfen oder noch besser; Ich bringe es diese Woche zur Werkstatt. Ja, das ist am Besten!

Zuhause angekommen brachte ich die Sachen in die Küche und half meiner Mutter beim Zubereiten. Ich machte die Salate, während meine Mutter das Fleisch für das Grill vorbereitete. Mein Vater stand draußen am Grill und Semih deckte den Tisch. Eren saß auf der Hollywoodschaukel und ich sah, wie mein Vater ihn immer mal wieder zum Lachen brachte. "Kızım, das ist fertig. Bring es deinem Vater", sagte meine Mutter und gab mir das Teller mit den Spießen drauf. "Okay, anne", sagte ich und lief nach draußen. Ich gab meinem Vater das Teller und prüfte, ob Semih alles hergebracht hatte. Ja, hatte er.

Wow dachte ich mir. Naja, da er jetzt alleine wohnen wird, muss er diese Sachen ja lernen. Putzen, kochen.. Ohje. Ich war mir zu 100 % sicher, dass Semih mich jedes zweite Wochenende zum Putzen anrufen würde. Kann er sich abschminken, dachte ich mir und musste grinsen.

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