-04- Von falscher Luft und gezackten Wellen

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Lara saß mit ihrer Mum und Sophie auf dem Sofa und versuchte sich auf die Folge Scrubs zu konzentrieren, die gerade lief. Maike zupfte an dem dunkelroten Überwurf und schaute in das flackernde Licht der Kerze, die auf dem Fernsehtisch stand.
»Halb neun«, seufzte ihre Mutter.
»Wann wollte Dad nochmal wieder da sein?«, fragte Sophie und strich sich die braunen Haare nach hinten.
»Vor eine Stunde.« Sie seufzte - erneut. »Er wollte durch die Städte fahren, ein bisschen Werbung machen und sich anschließend noch mit John treffen.«
»Und für Laras Geburtstag einkaufen!«, ergänzte Sophie, ihre grünen Augen leuchteten auf. Sie sah ihrem Vater erstaunlich ähnlich, das musste Lara immer wieder feststellen. Sophie war das leibliche Kind von Maike und Thomas, ihrem Vater. Maike stieß ihr in die Seite. »Psst!« Lara lachte. Ihr Geburtstag war erst Ende Dezember, also in gut 3 Monaten. Ihre Eltern machten immer ein riesen Drama daraus, aber diesmal würde es ihr 18.Geburtstag werden. Tja und dann ... endlich Erwachsen und alleine Auto fahren, vorausgesetzt man hatte einen Führerschein. Lara hatte keinen, würde ihn wahrscheinlich auch nicht so schnell machen, dafür fehlte einfach das Geld.
»Ich hol mir einen Joghurt«, verkündete Sophie und verschwand in der Küche.

Fünf Minuten später klingelte das Telefon auf dem kleinen Tischchen neben dem Sofa, dort wo die Duftstäbchen lagen. Kirschvanille. Lara würde diesen Geruch nie mehr vergessen.
»Hallo?«, sagte ihre Mutter in den Höhrer und von da an konnte Lara beobachten, wie sie von Sekunde zu Sekunde blasser wurde. »Ja ... ich verstehe. Welches Krankenhaus sagten sie? Ja, ich weiß wo das ist.« Sie legte auf. In Lara breitete sich ein flaues Gefühl aus.
»Mum, was ist los?«
»Dein Vater hatte einen Unfall. Er liegt im Krankenhaus.«
»Wie?« Lara sprang auf. »Ist es schlimm?«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Liebling. Die Ärztin meinte, wir sollten sofort kommen.« Maike legte den Hörer mit zitternden Händen ab.
»Hohl deine Schwester, wir fahren sofort.«

Lara stand ein paar Sekunden wie erstarrt da. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Es durfte nichts Schlimmes passiert sein - bitte nicht! Sie musste ihre Schwester nicht holen, sie kam aufgebracht ins Wohnzimmer gestürmt, hatte wohl alles mitgehört.
»Was ist mit Dad?«
»Das wissen wir noch nicht. Aber wir fahren jetzt hin«, antwortete Lara. Ihre Schwester presste die schmalen Lippen aufeinander. Sie sah aus, als würde sie gleich weinen. Maike wuselte in der Wohnung umher und suchte hysterisch nach ihrem Schlüssel, also nahm Lara ihre kleine Schwester in den Arm.
»Es ist bestimmt halb so schlimm.« Sophies Schultern bebten leicht und Lara konnte ihre Angst verstehen. Sie musste sich selbst zusammenreißen, um nicht vom Schlimmsten auszugehen. Bestimmt hatte sich ihr Vater nur ein Bein gebrochen, oder ein paar Rippen. Nichts Weltbewegendes, etwas das wieder heilen konnte mit der Zeit.
Zeit ...
»Hab ich das verdammte Ding!«, rief ihre Mutter. Lara zuckte ein wenig zusammen. Sie hatte ihre Mum noch nie fluchen gehört. Normalerweise ging sie hoch wie eine Furie, wenn Lara mal so etwas wie ›verdammt‹ oder ›heilige Scheiße‹ rausrutschte. Ihre Mutter war Christin, eigentlich nicht im strengen Sinn, aber wenn man an etwas glaubt, an einen Gott, oder was auch immer, der seine Augen und Ohren über die Welt richtet, passte man auf, was man sagt.
Es war eine seltsame Angst. Nicht wirklich real, fand Lara. Warum sollte sich so etwas allumfassendes wie Gott mit solchen Nichtigkeiten herumärgern? Die Angst, die sie nun alle verspürten hingegen, war real. Mehr als real. Beängstigend.

Sie verließen die Wohnung, stiegen in den alten VW und fuhren los. Im Krankenhaus angekommen, rief die Dame in dem großen, hellen Empfangszimmer eine Krankenpflegerin, die sie auf die Intensivstation brachte. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock und mit jedem Höhenmeter wurde Lara ein wenig mehr schlecht. Intensivstation, das konnte nichts gutes bedeuten. Sophie klammerte sich an die Hand ihrer Mutter. Sie war erst elf und sah aus wie ein verängstigtes Reh. Lara schaute zu der Krankenpflegerin. Eine kleine, dunkelhäutige Frau, die todernst dreinblickte.
Tod - Lara schluckte. Auf dem Plastikschild an ihrer Brust stand der Name: Frau Akuzawa.

Frau Akuzawa führte sie durch einen hell erleuchteten Gang. Es stank nach Desinfektionsmittel und überall standen Wagen mit OP-Kleidung und Mundschutz herum. Laras Herz zog sich heftig zusammen. Dieser Ort strahlte etwas Gespenstisches, etwas Hohles aus, als bestünde die Luft hier aus etwas anderem als Sauerstoff, Stickstoff und irgendwelchen Edelgasen. Aus etwas Falschem, etwas, das mal gelebt hatte, aber jetzt nur noch stumpf und hoffnungslos umhertrieb. Lara schluckte heftig und versuchte das beklemmende Gefühl abzuschütteln - was ihr nicht sonderlich gut gelang.

Sie blieben vor einer Tür mit einem breiten Sichtfenster stehen.
»Oh mein Gott!«, kreischte Sophie, die durch das Sichtfenster spähte. Lara wollte am liebsten überhaupt nicht hinsehen, tat es aber dennoch.
Schwaches Licht erhellte den Raum, in dessem Zentrum mittig, an der hinteren Wand ein Bett mit einer dünnen Gestalt darin stand. Ihr Vater. Aber man konnte ihn kaum erkennen. Überall standen Geräte und der Mann, der dort lag, sah verkabelt aus.
»Sie können zu ihm«, sagte Frau Akuzawa und hielt ihnen die Tür auf. »Ich hole die Ärztin.« Ihre Mutter und Sophie eilten sofort hinein, während Lara noch einen Moment an der Türschwelle stehen blieb. Ein dicker Schlauch führte von einem der Geräte direkt in den Mund ihres Vaters. Er sah entsetzlich blass aus, als würde überhaupt kein Blut mehr durch seinen Körper fließen. Das dunkelblonde Haar lugte glanzlos unter einem dicken Verband hervor. Auf seinen Schläfen klebten Kontakte, seine Augen, feste geschlossen, als könnten sie sich nie mehr öffnen.

Langsam, als wäre ihr Vater nicht mehr ihr Vater, sondern ein fremdartiges Subjekt, durchquerte sie den Raum und drückte sich dabei die Fingernägel in die Handflächen. Bitte nicht, flehte sie. Bitte lass alles wieder in Ordnung werden. Bitte! Sie stellte sich neben ihre Mutter, die ihren Mann zärtlich über die eingefallenen Wangen strich.
»Thomas ... «, flüsterte sie. »Was machst du für Sachen?« Sophie schluchzte neben Lara.
»Mum, was ist mit Dad?«, fragte sie mit bebenden Lippen.
»Komm her, Schätzchen, komm her.« Maike griff an Lara vorbei, nach ihrer Tochter, zog sie vor sich und legte die Arme um ihre Schulter. »Das wird schon wieder. Ich bin mir sicher, Dad muss sich nur ein wenig ausruhen.« Lara schaute auf einen piepsenden Monitor - ein EKG-Gerät, das den Herzschlag ihres Vater in gezackten Wellen anzeigte - und zweifelte daran.

Ihrem Vater ging es sehr schlecht, das wusste sie jetzt. Dafür brauchte sie keinen Doktortitel. Sie sah es an der blassen, aschfahlen Haut, dem Schlauch in seinem Mund und den zahllosen Verdrahtungen an seiner Brust.
Piep, Piep, Piep - machte das EKG-Gerät. Eine gezackte Welle nach der anderen.
Das Leben, dachte Lara. Das Leben auf einem grünen Monitor. So sollte es nicht aussehen. So sah Leben nicht aus, so durfte es nicht aussehen. Sie fuhr sich mehrmals durch die schulterlangen Haare, nahm die Hand ihres Vaters, die sich warm anfühlte, aber so unbewegt dalag, als wäre er eine Puppe.
»Frau Kuhn?«, fragte eine weibliche Stimme hinter ihnen und da wusste Lara, der Moment der Wahrheit war gekommen.


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