-07- Von Hoffnungen und Wundern

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Lara beschloss ihn in der Fünfminutenpause anzusprechen. Doch dazu kam es nicht, da Aline und Vera sich an ihn ranschmissen. Sie fragten ihn aus, woher er kam, was er hier machte, auf welche Schule er vorher ging. Er beantwortete alle Fragen so leise und mit deutlichem Desinteresse, dass Lara nicht wirklich etwas hörte. Sie verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte den Kopf darauf. Das Tafelbild über den kalten Krieg verschwamm. Was machte sie hier eigentlich? Sie gehörte nicht hier her, sondern zu den Leuten, die den Tod vor sich sahen. Zu ihrer Mutter, ihrer Schwester und Kyle. Sie verstanden sie. Und wenn ihr Vater sie sehen konnte, wenn sein Geist wirklich über seinen Körper hing, dann würde auch er sie verstehen. Die lebenserhaltenden Maschinen abstellen, ging es ihr durch den Kopf. Konnte sie das? Mein Dad ist Organspender, dachte sie weiter.

Sie richtete sich kerzengerade auf, schüttelte den Kopf, als wäre sie irre geworden, stand auf und ging.

Noch während sie durch das Schulhaus Richtung Hauptausgang eilte, holte sie ihr Handy heraus und versuchte Kyle anzurufen, aber ihre Hände zitterten zu sehr.

»Hey, warte mal«, hörte sie eine etwas heisere Stimme. Sie gehörte zu Cas, das erkannte sie sofort. Lara zögerte, überlegte kurz, einfach weiter zu gehen, aber dann blieb sie doch stehen und drehte sich zu ihm um. 

»Hallo«, sagte er. Er lächelte nicht, sondern sah sie ernst an. »Geht's dir gut?«

Lara wollte »ja« sagen, bekam das Wort aber nicht heraus, es blieb in ihrem Hals stecken, sodass sie überhaupt nichts sagen konnte. Cas sah auf sie hinab, er war mindestens anderthalb Köpfe größer als sie selbst. Er kratzte sich am Hinterkopf.

»Tut mir leid, dass ich Gestern einfach so verschwunden bin. Das war nicht sehr höflich.« Er blinzelte und Lara schaute dabei auf seine langen Wimpern. Cas sah sehr schön aus. Reine, blasse Haut, markante Kieferknochen, strahlende Augen. Es gab bestimmt viele Mädchen, die auf ihn standen. 

»Weswegen warst du denn im Krankenhaus?«, fragte er und lehnte sich gegen die verblichene Wand. 

Hirntot, dachte Lara. Das war eigentlich tot. Nicht mehr da. Ohne Hirnaktivität, amtete die Lunge nicht von selbst und ohne Atem kein Herzschlag, ohne Herzschlag gleich Exitus. Und tschüss. Wer wusste schon wohin. Ins Paradies, ein neues Leben, vielleicht sogar eine andere Welt? Verdammt. Hirntod. Ein dummer Unfall. Der Kopf gegen die Windschutzscheibe gedrückt – Hirntod.

»Hirntod«, sagte Lara, einfach weil dieses verdammte Wort nicht mehr länger in ihrem Kopf festsitzen konnte, weil es raus musste und Cas war da und hatte sie gefragt. »Mein Vater, er ist hirntot.« 

»Oh ... « Cas blinzelte ein paar Mal hintereinander. Dann fuhr er sich durch die Haare. »Verdammt«, sagte er. »Das darf doch nicht ... sie konnte doch nicht ... es tut mir so leid.« 

»Mir auch«, murmelte Lara und schaute zu Boden. Sie spürte wie die Tränen in ihr hochkamen. Der Knoten in ihrer Brust wollte sich lösen. Doch sie konnte das nicht zulassen. Nicht hier, nicht jetzt. 

»Was machst du dann in der Schule?«, fragte Cas. »Solltest du nicht im Krankenhaus sein?« 

»Habs nicht ausgehalten.« Lara umgriff ihren Oberarm. Ihre Hand zitterte. 

»Soll ich dich fahren?« Lara schaute zu ihm hoch. 

»Bist du volljährig?« Er nickte. 

»Vermutlich«, sagte sie. 

»Vermutlich?« Cas beugte sich zu ihr. 

»Du hast Unterricht«, warf Lara ein. 

»Ist mir egal.« Cas richtete sie auf. »Bin da auch nur, weil das Amt sonst die Wohnung nicht mehr zahlt.« Lara hob fragend die Brauen. 

»Ich lebe allein«, erklärte er. 

»Wie alt bist du? Und was ist mit deinen Eltern?« 

»Ich bin achtzehn, fast neunzehn.« Er lächelte, aber es sah künstlich aus und erreichte seine Augen nicht. »Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Meine Mutter ... « Er seufzte schwer. »Das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass du zu deinem Vater kommst. Du hast doch sicher Familie, die dort auf dich wartet, oder?« Lara nickte. Obwohl sie daran zweifelte, jemand würde auf sie warten.

»Die warten alle nicht auf mich«, murmelte sie, während sie über den Parkplatz zu seinem Auto liefen. 

»Wie bitte?« Er drehte sich halb zu ihr. 

»Sie warten auf den Tod. Mehr nicht.« Cas blieb stehen. Lara spürte seinen Blick auf ihr ruhen und starrte auf den Asphalt. 

»Es kann doch sein, dein Vater wacht wieder auf.« 

»Unwahrscheinlich.« Lara fuhr mit dem linken Stiefel über den Platz. 

»Hirntot ist schon ziemlich endgültig.« Cas zog einen Schlüssel aus seiner Jeans. Diesmal trug er eine, die passte. 

»Man sollte die Hoffnung nie aufgeben«, sagte er, führte sie zu einem alten Ford ganz in schwarz und hielt ihr die Beifahrertür auf. Lara nahm ihren Eastpak von der Schulter und stieg ein.

Vielleicht war es dumm bei einem, eigentlich fremden Jungen, ins Auto zu steigen. Aber sie hatte den ersten schwarzen Gürtel in Jiu Jitsu, obwohl sie erst im Dezember achtzehn wurde. Cas lief um den Wagen herum und stieg auf der Fahrerseite ein. Ohne ein Wort zu sagen, startete er den Motor und fuhr los. Während der Fahrt dachte Lara über die Hoffnung nach. Sie wollte keine Hoffnung, wenn es falsch war, aber woher wusste man, ob man sich falsche Hoffnungen machte? Das wusste man nie, das war es ja eben, was das Hoffen so schwierig machte. Und je mehr man hoffte, desto schmerzhafter wurde die Enttäuschung. Lara war Gewissheit lieber. Aber was im Leben war schon gewiss? Vielleicht sollte sie einfach wirklich hoffen. Womöglich war es besser, auf ein Wunder zu warten, als auf den Tod. 

»Glaubst du an Wunder?«, fragte sie, als sie an einer hohen Ampel hielten. 

»Das muss ich«, antwortete er und tippte mit den Zeigefingern auf das Lenkrad.

»Und du, Lara, richtig? Also dein Name ist doch Lara?« 


»Ja. Und ... keine Ahnung. Mir ist mal noch nie eins passiert. Jedenfalls keins, das ich bemerkt hätte.«

»Ich glaube, jeder Atemzug ist ein Wunder«, sagte Cas leise und schaute konzentriert auf die Ampel, die kurz darauf auf grün umsprang. 

»Und wenn eine Maschine die Atemzüge erzeugt?«, fragte Lara und lehnte sich gegen das Fenster. In dem alten Ford roch es gut. Nach Lavendel, auch ein wenig würzig, nach Mann und Rasierwasser. 

»Ich schätze, das ist dann eher Wunder Technik. Nicht Wunder Leben. Aber wenn eine Maschine dabei hilft, irgendwann wieder selbständig zu atmen, ist das irgendwie auch ein Wunder.« 

»Ja, wenn. Woher soll ich wissen, wann das Leben endet und nicht mehr zurückkommt, wenn eine Maschine für einen lebt?« 

»Keine Ahnung, Lara. Tut mir leid.« 

»Schon gut. Das weiß wohl keiner so wirklich.« Bis auf Gott. Vielleicht. Wenn es einen gab.


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