Am Mittwoch wurde es richtig heftig. Cas hatte immer noch nicht geantwortet und in die Sorge vermischte sich erste Wut. Was dachte er sich eigentlich? Es konnte doch nicht so schwer sein, nur eine einzige SMS zuschreiben. Zwischen der dritten und vierten Stunde irgendwann, Lara schaute kaum noch auf die Uhr, wozu auch, die Zeit strich sowieso einfach nur dahin, kam sie. Ihre Mutter, mit Sophie unter den Armen. Maike trug eine Jogginghose mit roten Flecken. Lara wurde ganz anders und sie betete, es möge Wein sein und nicht Blut.
»Lara«, sagte sie und schaute sie aus ihren Knopfaugen fast flehend an. Als könnte sie sie retten. Doch wie? »Komm, wir gehen nach Hause.« Sie hickste und für einen schrecklichen Moment, befürchtete Lara, ihre Mutter würde sich ins Kurszimmer übergeben. Es geschah nichts der Gleichen und dennoch zog der Raum sich unnatürlich in die Länge. Sie krallte ihre Fingernägel in die Tischkante und sagte leise: »Ich will nicht.«
»Du kommst jetzt mit!«, rief ihre Mutter ein paar Oktaven zu hoch. Ein Raunen ging durch den Kurs, die ersten kicherten.
»Sie stören den Unterricht«, sagte ihre Französischlehrerin Frau Schaff und verschränkte unbeholfen die Arme vor der Brust. Lara schluckte. Einmal, zweimal. Sie sah zu der leichenblassen Sophie, die sie mit ihren grünen Augen ansah.
Verdammt, verdammt, sie konnte ihren Vater darin sehen.
Es tat weh. Es tat so weh, sie so zu sehen und ihre Mutter ...
Es tat so weh, sie wollte aufspringen und schreien.
Schreien, schreien, schreien bis nichts mehr blieb als ein Krächzen, bis alle schwiegen und keiner mehr lachte.
Sie sah es vor sich. Wie sie alle anstarrten. Sprachlos. Es gab keine Lästereien für sie, denn irgendwie wäre alles vorbei und ihre Schreie hätten sie stumm gemacht.
Lara stellte sich vor, wie sie aufstand, ging und nie wiederkam. Und zum ersten Mal legte sich dieser Gedanke wie ein Tuch aus Salbei auf ihr Herz, umschloss es sanft, beinahe fürsorglich.
Eine gefährliche Fürsorge, das wusste Lara. Aber dennoch gab sie sich dem Gefühl einen Moment hin, ehe sie es abschüttelte wie Konfetti an Fasching. »Ja«, sagte sie monoton und es hörte sich nicht länger wie ihre eigene Stimme an, sondern wie eine, von der anderen Seite. In diesem Moment wollte sie nicht sein, wo sie war. Und sie sah nur einen Streifen Licht, ein dünner, dünner Streifen, an den sie sich mit aller Gewalt krallte.
Lara spürte es, diese Verbundenheit. Sie kannte ihn kaum, aber da gab es etwas, das sie und Cas verband. Doch er schrieb nicht, rief nicht an, kam nicht zur Schule oder ans Wunderkästchen.
Es war, als würden plötzlich einfach alle guten Dinge verloren gehen. Dabei wollte sie doch nur reden. Einfach reden. Nicht mit Kyle, Susi oder Hime, sondern mit ihm.
So grotesk es sich anhörte. Aber vielleicht wollte sie es auch so sehr, weil Cas sie nicht seit Jahren kannte, weil er irgendwie abseits stand, weit weg von ihrer Familie aber dennoch in ihrem Kopf auftauchte. Immer und immer wieder.
Lara stand auf, durchquerte den Raum und es fühlte sich an wie eine Folter. Als würden die Augen, die sich auf sie richteten, peitschen Schwingen. Sie kam sich nackt vor und jeder Blick tat weh, als würde die Lederschnur ihre Haut aufreißen. Lara nahm ihre Schwester bei der Hand und verließ mit ihrer Mutter das Gebäude. Frau Schaff, sichtlich überfordert, sagte kein Wort. Das war irgendwie gut so, was hätte sie auch sagen oder machen sollen? Aber ein Teil von Lara wünschte sich, flehte fast schon, sie würde etwas unternehmen. Würde sie und Sophie retten, würde sich um ihre Mutter kümmern, die Hilfe brauchte. Dringend Hilfe. Aber es geschah nichts. Nichts, nichts, nichts. Das Leben erschien ihr plötzlich wie eine Endlosschleife. Zuhause befahl ihre Mutter ihr, in der Küche sauber zu machen. »Lara«, sagte sie. »Da du nun nicht mehr in der Schule bist, mach dich nützlich -putz die Küche!« Sie hob dabei drohend die Hand und holte sich eine Flasche Sake aus dem Kühlschrank, indem bereits das Gemüse gammelte.
Lara machte sich erstmal daran, das zerbrochene Geschirr zusammen zu fegen und in einen Müllsack zu schmeißen. Danach kontrollierte sie die Lebensmittel und schmiss alles Verdorbene ebenfalls weg. Sophie kam irgendwann herein und setzte sich bleich und zitternd auf den Esstisch. »Ich will wieder zu Susi«, sagte sie. Lara unterbrach sich kurz bei der Arbeit, horchte auf ihre Mutter, die schnarchend vor dem Fernseher lag. »Ruf sie an und sag, sie soll vorbeikommen. Was ist denn überhaupt passiert, hat dich Mum auch einfach aus dem Unterricht geholt?«
Sophie nickte. »Sie hat gesagt, sie will nicht alleine sein. Wir sind eine Familie, also müssen wir zusammenhalten.« Sie schniefte und wischte sich mit dem Ärmel ihres violetten Hemdes über die Augen. »Ich will Mum nicht traurig machen.«
»Ach Süße.« Lara setzte sich neben sie und schaute auf das versiffte Spülbecken, in dem das Erbrochene ihrer Mutter mittlerweile festklebte. »Du machst Mum nicht traurig. Sie ist traurig wegen Dad.«»Aber ich habe Dad auch verloren und besaufe mich nicht.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Mum denkt, dass Dad nur ihr gehört hat, sie denkt, dass nur sie traurig ist.«
»Sophie...« Lara legte einen Arm um sie und drückte sie an sich.»Es stimmt doch ... «
Ja, es stimmte und scheiße, Sophie war nicht dumm. Sie sah das schon richtig. Ihre Mutter hatte nichts mehr im Sinn, außer ihrem eigenen Kummer.
»Das wird schon«, sagte sie und streichelte über ihren Rücken.»Ich glaube nicht.« Sophie zeigte auf das Spülbecken. »Das macht mir Angst.«
»Ja, mir auch«, gab Lara zu. Es half nichts, sie zu belügen. Sie sah es doch selbst.
»Vielleicht muss sie zu einem Psychiater.«»Ja, Sophie. Das würde ihr wahrscheinlich helfen.«
»Können wir einen anrufen?«Lara schüttelte den Kopf. »So leicht ist das leider nicht. Mum muss da selbst hingehen.«
Sophie sprang vom Tisch, öffnete den Kühlschrank und schloss ihn seufzend wieder. »Aber wir müssen Mum doch irgendwie helfen können, oder?«Lara sprang ebenfalls vom Tisch, nahm sich Küchenhandschuhe aus einem Behälter auf einer der grauen Arbeitsplatten und machte sich daran, mit einem alten Schwamm und viel Zitronenspülmittel, das Erbrochene wegzuschruppen. »Zuerst«, keuchte sie dabei und versuchte nicht zu atmen, »können wir hier ein bisschen aufräumen. Wenn sie sieht, dass es sauber ist, geht es ihr bestimmt ein wenig besser. Dann rufen wir Susi an. Und Susi kann dann mit Mum reden.«
»Okay. Ich will nämlich nicht alleine mit Mum reden. Was soll ich machen?«
Lara schruppte die restliche Kruste des Erbrochenen ab und drehte dann schnell den Wasserhahn auf. »Du könntest dir einen Müllbeutel nehmen und den ganzen Mist im Flur aufräumen.« Lara wandte sich zu ihr um und lehnte sich ans Spülbecken. Schweiß stand ihr vor Ekel auf der Stirn, dennoch zwang sie sich zu lächeln. »Danach können wir zusammen das Bad saubermachen, ja?«
»Ja.« Sophie nickte eifrig. Dabei hasste sie es, aufzuräumen - wie eigentlich fast jedes Kind, das langsam in die Paupertät kam. Lara konnte sich nur vage vorstellen, was für ein Chaos in dem Mädchen vorherrschen musste. Nachdem Sophie auf den Flur verschwand, schmiss Lara den alten Schwamm weg, wusch sich vier Mal die Hände mit dem Spülmittel, bis sie ganz wund und trocken waren und schrieb Cas dann noch eine SMS:
Lara:
Hey Cas,ich weiß nicht, was bei dir los ist. Du schreibst ja nichts.
Sie schickte die SMS ab und schloss kurz die Augen. Nicht genug, dachte sie und schrieb erneut.
Lara:
Ich will dich sehen ...

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Scherbenbild
General FictionLara verliert ihren Vater, der nach einem Unfall hirntot ist. Cas(♂) Mutter bekommt sein Herz und eine neue Chance, doch sie scheint schon lange dem Tod zu gehören. Laras und Cas Liebesgeschichte beginnt an einem Ort der Hoffnung und der Verzweif...