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Die silbergrauen Strahlen des Mondes warfen ihr Licht durch die Wolkendecke und brachten die Spitzen der kleinen Wellen des Sees zum Glitzern. Cas und Lara liefen den steinigen Strand entlang und hielten sich fest an den Händen. Er deutete im Halbdunkel auf eine für Lara, beliebige Stelle und sagte: »Hier habe ich dich gefunden, glaube ich.«

Lara blieb stehen und schaute auf den See. Nicht weit von dort, ragte der schwarze Steg in die Dunkelheit der Nacht. »Ich war wohl zu dicht, um die richtige Stelle zu finden.« Sie seufzte und zog an Cas Hand. »Wir müssen zum Steg.«
»Und was werden wir dort finden?«, fragte Cas.

»Ich bin mir nicht sicher. Es ist lange her.«
Kühle Nachtluft wehte ihnen entgegen, als sie bis an den Rand des Stegs liefen. Lara schaute auf die schwarzblaue Wasseroberfläche und schluckte. Es würde verflucht kalt werden, aber sie musste wissen, ob das Kästchen noch dort unten lag. Während sie ihren Mantel auszog, hoffte sie nur, ihre Erinnerungen ließen sie nicht im Stich.

»Was zur Hölle machst du da?«, fragte Cas und sah sie entsetzt an. Lara erwiderte nichts, drückte ihm nur die Jacke in die Arme und zog ihre Stiefel aus. »Du willst doch nicht ... ?« Seine Brauen flogen nach oben, aber ehe er sie hätte aufhalten könne, biss Lara die die Zähne zusammen und sprang ins Wasser. Die Kälte lähmte ihre Glieder und für einen Moment konnte sie nichts weiter tun, als in der Dunkelheit des Wassers zu schweben. Sie zählte die Sekunden. Eins, zwei, drei, dann riss sie die Arme nach vorne und taste nach den Pfeiler, der den Steg stützte. Ihre Hände berührten klitschiges Holz, sie umklammerte den Pfeiler und zog sich daran hinab. Tiefer, immer tiefer in die Nacht des Sees. Das Wasser wurde kälter, schien durch ihre Haut zu dringen und ihre Knochen zu gefrieren. Die Sekunden verstrichen immer weiter. Dreiundzwanzig, vierundzwanzig ... schon bald würde sie Luft holen müssen. Aber dann stieß sie mit den Händen an sandigen Grund. Mit der einen hielt sie sich an dem Pfeiler fest, damit sie nicht nach oben abgleitete und mit der anderen fuhr sie über den Sand und die Steine, tastete nach dem Kästchen. Dreißig, Einunddreißig,Zweiunddreißig, Dreiunddreißig, Vierunddreißig. In ihrer Brust entstand bereits ein unangenehmer Druck. Sie wollte einatmen. Immer hastiger untersuchte sie den Grund und versuchte in dem dunklen Wasser etwas zu erkennen. Doch da waren nur Schatten, die an ihren bereits gereizten Augen vorbeistrichen. Ein scharfer Schmerz durchzog ihr linkes Ohr, als das eiskalte Wasser bis tief in ihre Gehörgänge eindrang. Dreiundvierzig, Vierundvierzig. Sie tauchte um den Pfeiler herum, tastete weiter alles ab, grub ihre Hände in den schlammigen Sand und dann stießen ihre Finger gegen etwas hartes, glattes. Sie hob es hoch, tastete nach der dünnen Schnur, und den schweren Stein, der daran befestigt war, um das Kästchen am Grund zu halten. Lara durchtrennte die Schnur mit roher Gewalt, drückte das Kästchen fest an ihre Brust, stieß sich mit den Beinen vom Boden ab und streckte sich der Oberfläche entgegen.

Eine Hand packte sie am Arm, ehe sie ganz an der Luft war und zog sie nach oben. Keuchend hielt sie sich an der metallenen Leiter zum Steg fest und schob das Kästchen auf das schwarze Holz. »Gefunden.« Sie musste über beide Ohren grinsen.

»Komm da raus!« Cas schien alles andere als amüsiert. Lara kletterte mit steifen Gliedern die Leiter empor und ließ sich, noch immer außer Atem, auf das Holz sinken.
»Mein Gott!« Cas legte ihr ihren Mantel um, zog seinen aus und legte ihn ebenfalls um sie.

»Ich war kurz davor, dir hinterher zu springe! Du kannst doch nicht mitten im November ... « Lara hörte ihm nicht mehr zu, sondern griff nach der Schachtel, die fest mit Frischhaltefolie umwickelt war. Sie wischte die Algen mit ihrem nassen Pulli ab und betrachtete das dunkle Eichenholz und das Silber schimmernde Schloss in Form einer Blume.
Cas zog sie unsanft hoch. »Komm, du muss ins Warme und raus aus den nassen Sachen!«

Erst da bemerkte Lara die beißenden Kälte und ,wie auf Kommando, fing sie an zu frösteln. Cas legte seinen Arm um ihre Taille und drückte sie fest an seinen warmen Körper. Im Ford angekommen, schaltete er sofort den Motor und die Heizung an. Warmer Wind blies Lara entgegen und brachte sie kurz noch viel mehr zum Zittern. Sie legte das Kästchen auf ihren Schoß und strich über die Folie.

»Immerhin hast du gefunden, wofür wir hergekommen sind«, sagte Cas.
Er fragte nicht, was sich in der Kiste befand und Lara war ihm sehr dankbar dafür. Erstens, war sie sich selbst nicht mehr sicher, zweitens, würde sie es sowie so gleich öffnen.
»Mein Dad hat es dort versteckt, vor 11 Jahren«, sagte sie, als sie vor Cas Wohnhaus parkten.
Er betrachtete sie einen Moment. »Deine Lippen sind schon ganz blau«, sagte er nur und stieg aus.

In der Wohnung schob er sie Kommentarlos ins Bad und brachte ihr das trockene T-shirt. Dann nahm er ihr die Mäntel ab und half ihr sich den nassen Pulli und das T-shirt auszuziehen. Plötzlich stand sie mit nackten Brüsten vor ihm und drehte sich schnell um. Scheiße, das hatte sie fast vergessen! Bei dem schnellen Aufbruch hatte sie es nicht als nötig erachtet, sich den verfluchten BH wieder anzuziehen. »Entschuldige«, murmelte Cas. Sie spürte seine Nähe auf ihrem nackten Rücken.
»K-kannst du mir das T-shirt reichen?«

Er reichte ihr das T-shirt. Sie stülpte es sich über und drehte sich um. »Du hättest sie früher oder später eh zu Gesicht bekommen«, sagte sie um ihre Verlegenheit zu überspielen. Er nickte nur und deutete dann auf das Kästchen, welches Lara auf die Ablage über dem Waschbecken gelegt hatte. »Wirst du es öffnen?«

Lara nahm es an sich und trat an ihm vorbei aus dem Bad. »Ja.« Sie lächelte ihn an. »Ich bin ein wenig nervös ... Wenn ich es öffne, öffne ich ein Stück Vergangenheit und das macht ihn irgendwie ... lebendig.«

Cas musterte sie ernst. »Erinnerungen. Das ist alles, was wir noch haben.«
Sie gingen ins Wohnzimmer und setzten sich auf den Teppich. Lara entfernte die Folie und sie hebelte das Schloss mit einem kleinen Schraubenzieher auf. Der Geruch von alten Papier strömte Lara entgegen und sie betrachtete den dicken, vergilbten Umschlag, der fast die gesamte Breite und Länge des Kästchens ausfüllte. Sie strich mit spitzen Fingern darüber und nahm ihn schließlich heraus. Darunter lag eine Kette mit einem silbernen aufklappbaren Amulett. Feine, verschlungene Linien zierten die Oberfläche. Lara strich über die Rillen und öffnete schließlich den Verschluss. Eine Frau mit langem, schwarzem Haar und dunkelkaramellfarbener Haut lächelte ihr entgegen. Die Winkel ihrer roten, vollen Lippen zeigten nach oben, aber ihre Augen, ihre großen, braunen Augen, schien dieses Lächeln nicht erreichen zu können.
»Sie sieht dir ähnlich«, sagte Cas. Lara legte den Kopf auf seine Schulter und betrachtete die Gravur auf der anderen Seite des Amulett. In Liebe ...
»Ich weiß nicht mal, ob sie noch lebt.« Sie klappte das Amulett zu und legte es beiseite. Dann öffnete sie den Umschlag und zog einen Stapel sauber zusammengefalteter Papierbögen heraus. Auch sie waren an den Seiten schon vergilbt. Sie nahm die erste Seite, drehte sie um und faltete sie auseinander. Eine fein säuberliche Handschrift zierte das Blatt, die Handschrift ihrer Mutter. Sie hielt das Blatt so, dass Cas es sehen konnte. Und so lasen sie. Die erste Seite, die zweite und schlussendlich die vierte. Als Lara die letzte Seite auf den Boden legte, weinte sie und vergrub ihr Gesicht an Cas Brust.

ScherbenbildWo Geschichten leben. Entdecke jetzt