Nachdem die Küche, na ja, zumindest nicht mehr ganz so nach Zombieapokalypse aussah, säuberte Lara mit Sophie das Bad. Eine Arbeit, die beiden die Tränen in die Augen trieb.
Es stank einfach nur nach Urin und Erbrochenem. Noch vor gut einer Woche, sah hier alles sauber aus und es duftete frisch nach Lavendel. Lara konnte sich nicht mehr daran erinnern, in diesem Chaos geduscht zu haben. Aber genau das hatte sie getan, bevor sie zu Susi gingen.
Mittwoch, 4. November – alles hatte sich verändert. Mittwoch, 21 Oktober – hirntot. Der Anfang vom Untergang. Sophie und Lara schrubbten so lang, bis alles glänzte. Dann duschten sie nacheinander und riefen Susi an.
Susi war total aufgebracht, hatte gedacht, Lara und Sophie wären die ganze Zeit in der Schule gewesen. Sie gab ihren Posten an der Kasse des Wunderkästchens sofort auf und kam zwanzig Minuten später die Treppen hochgerannt. Lara konnte es sofort hören. Die hastigen Schritte, das klimpern der Rosenquarzsteine an ihrer Tasche. Sophie machte ihr die Tür auf, bevor sie klingeln konnte. »Wo ist eure Mum?«, fragte sie aufgebracht.
»Im Wohnzimmer, aber sie schläft«, sagte Sophie.
»Gleich nicht mehr.« Susis Wangen leuchteten Rot vor Wut. Lara lehnte gegen die Wand und zog ihre Schwester zu sich. »Lara, geh mit ihr in dein Zimmer. Ich werde jetzt mal mit eurer Mutter reden.«
Lara nickte kurz, zögere aber dann noch einen Moment. »Sei nicht so hart.«
Aber Susi schüttelte nur den Kopf und stürmte an ihnen vorbei. Lara nahm Sophie mit in ihr Zimmer und schloss die Luke, die in die Wohnung hinabführte.
Man hörte die Schreie dennoch. Sophie weinte und krümmte sich auf Laras Bett zusammen.
Der Nachmittag kam. Worte wie »Polizei« oder »Jugendamt« fielen. Lara hörte wie irgendetwas zerbrach. Vermutlich das letzte Geschirr. Sophie zuckte immer Mal wieder zusammen und Lara nahm sie in den Arm. »Ist schon gut«, sagte sie immer wieder und versuchte sich auf das Ticken ihres Weckers zu konzentrieren. Ihre Mutter heulte unten so laut auf, selbst Lara zuckte dabei zusammen, starrte weiter auf die Uhr, beobachtete den Sekundenzeiger, wie er sich langsam im Kreis drehte, immer wieder an denselben Zahlen vorbeistrich. Die Minuten vergingen. Lara fühlte Sophies Herzschlag an ihrer Brust, weil sie sich so fest an sie klammerte. Ihr kam es so vor, als wäre Sophie wieder fünf Jahre alt und Lara würde sie in den Schlaf wiegen. Sie summte leise »nothing else matters« vor sich her und dann »when you believe« von »Der Prinz von Ägypten«. Ein verdammter Disneyfilm, den sie sich damals mit Sophie immer und immer wieder anschauen musste.
»They can be miricals«, sang sie leise, »when you believe. Now we are not afraid, although we know, theres much to fear.«
Eine Tür schlug zu, Lara hörte ein Glas zerspringen. Schreie. »Reiß dich zusammen, Maike!« ... »Das sind deine Kinder!«
Lara wollte sich die Ohren zuhalten. »Though Hope is frail, it's hard to kill ... «, sang sie.
Erneut knallte eine Tür zu und diesmal klang es endgültig. Es wurde still. Lara konnte nur das leise Schluchzen ihrer Schwester hören. Irgendwann trauten sie sich aus Laras Zimmer. Doch in der Wohnung herrschte wieder Chaos. Überall lagen Scherben. Susi war nicht mehr da und ihrer Mutter schlief mit der halbleeren Sakeflasche in ihrem Bett. Susi rief sie kurz darauf an und meinte, sie würde sich kümmern, sie sollten nur ein paar Tage aushalten. Lara wusste bereits, was das bedeutete. Jugendamt. Sie war sich nur nicht sicher, ob sich Sophie dessen auch bewusst war.
Die Nacht brach über sie herein, schneller als sie sollte. Sophie lag neben Lara und schlief als es anfing. Wie das Heulen eines jungen Wolfes, der verwundet nach seinen Eltern suchte. Ein Wimmern, so durchdringend, dass es durch jede Decke und jede Wand drang.
Lara schaltete die Lichterketten an, starrte auf den Boden – auf den Sand unter Wasser. Ihre Mutter war zerstört. Thomas musste ihre Liebe fürs Leben gewesen sein. Und nun, nun sah sie das Leben nicht mehr, sah ihre Kinder nicht mehr. Sophie schreckte hoch. Sie schwitze furchtbar und sah aus, als würde sie gleich hyperventilieren. »Was ist das für ein Geräusch?«, keuchte sie, schaute sich um und dann erkannte sie es. »Mum!« Sophie sprang auf, stolperte an den Pfeilern mit den Lichterketten vorbei und begann die Luke nach unten zu klettern. Lara folgte ihr. Unten saß ihre Mutter im Flur, gegen die Wand gelehnt, mit einem Haufen Scherben um sich herum. »Ich will sterben«, murmelte sie.
»Nein, Mum, sag das nicht!« Sophies Stimme zitterte, sie kniete zu ihrer Mutter und nahm sie in den Arm. »Alles wird gut.«
Lara würde dieses Bild nicht mehr vergessen. Das kleine Mädchen, welches versuchte, ihre Mutter zu trösten. Der angeschossene Wolf, der die Wunden am Herzen seiner Mutter leckte. Lara kniete sich auf die andere Seite und nahm die beiden ebenfalls in den Arm. Und dann weinten sie, wie die Wölfe, die den Mond anheulten. Das Rudel hatte seinen Anführer verloren und nun sah keiner mehr das Ziel, das Licht, den Mond am Himmel. Lara hatte ihn geliebt. Sie liebte ihn noch immer. Und es fühlte sich so an, als könnte sie nicht bleiben. Nicht im Rudel bleiben. In dieser Nacht, während sie alle weinten, dachte Lara über das Sterben nach. Das Tuch aus Salbei legte sich enger um ihr Herz, machte sie müde, unendlich müde. Aber sie konnte ihre Mum und ihre Schwester nicht alleine lassen, nein niemals. Sie würde stark sein, stark für ihre Mum und Sophie.
»Who knows what miracles«, sang sie in Gedanken, »you can achieve, when you believe. Somehow you will. You will, when you believe... Hope seemed like the summer bird, to swiftly flown away ... «
Als sie am Morgen aufwachten, lagen sie auf dem harten Boden. Lara blinzelte in das schwache Sonnenlicht, welches von den Fenstern ins Wohnzimmer, bis zu ihnen in den Flur schien. Es fühlte sich warm auf ihrem Wollpullover an. Warm und geborgen. Sie setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Ihre Mutter war nicht mehr da. »Sophie?«, flüstere sie und rüttelte an den Schultern ihrer Schwester. Sie seufzte leise und setzte sich gähnend auf. »Wo ist Mum?«, fragte sie heiser. Lara wollte geraden mit den Schultern zucken, als sie die Klospülung hörte. Kurz darauf öffnete sich die Tür. Lara hätte am liebsten weggeschaut. Ihre Mutter sah nicht einfach nur blass aus, sondern wie ein Geist. Und so verhielt sie sich auch. Schlich durch die Wohnung, öffnete den Kühlschrank, schloss ihn wieder, ohne sich etwas zu nehmen und verschwand im Schlafzimmer. Ihre Mutter hatte abgenommen. Lara fragte sich, ob sie bis auf Alkohol überhaupt etwas zu sich nahm. Im Kühlschrank befand sich nämlich nicht mehr viel Essbares.
Lara brachte Sophie in die Schule. Sie selbst blieb auch für volle vier Stunden. Deutsch, Sozialwissenschaften und Bio. Danach ging sie in den Supermarkt um das Notwendigste wie Brot,Kartoffeln, Nudeln, Reis, Shampoo und Seife zu kaufen. Sie würde mehr Mals mit dem Bus hin und her pendeln müssen, denn allein konnte sie nicht alles tragen. Nach dem zweiten Durchgang fuhr sie an den See, legte sich in das Gras unter die, immer kahler werdenden Linden, und starrte auf ihr Handy. Hanna hatte ihr geschrieben und fragte, ob sie am Abend ins Training kommen würde und ob sie so einen Kinoabend wiederholen wollten. Lara schrieb nicht zurück. Vielleicht später. Vielleicht würde sie auch ins Training gehen, vielleicht nicht. Es war ihr egal.
Am Abend, um halbacht, stand dann ein Mann vom Jugendamt vor der Tür.
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Scherbenbild
General FictionLara verliert ihren Vater, der nach einem Unfall hirntot ist. Cas(♂) Mutter bekommt sein Herz und eine neue Chance, doch sie scheint schon lange dem Tod zu gehören. Laras und Cas Liebesgeschichte beginnt an einem Ort der Hoffnung und der Verzweif...