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Als der Mann vom Jugendamt, Lars, meinte, Familie Braun wäre ein wenig anstrengend, hatte er maßlos untertrieben. Sie war nämlich mehr als ätzend, vor allem Frau Braun, mit ihren immer zu rot geschminkten Lippen und einem Hang zur AUTORITÄREN ERZIEHUNG!

Lara und Sophie hatten die Wahl gehabt. Eine Pflegefamilie außerhalb der Stadt, oder eben hier, bei dem Ehepaar Braun. »Nur übergangsweise, bis es eurer Mutter wieder gut geht«, hatte dieser Lars gesagt und Lara dachte; wie schlimm konnte es schon werden?

Aber allein die Autofahrt entpuppte sich als eine Probe ihrer Nerven. »In unserer Familie gibt es einige Regeln. Wenn ihr sie einhaltet, werden wir keine Probleme miteinander bekommen«, sagte Frau Braun, während sie vorne in ihrem hässlichen Opel saß, ihrem Mann das Fahren überließ und selbst ein Pfefferminzbonbon nach dem anderen lutschte. Irgendwie wäre es ja höfflich gewesen, ihnen auch welche anzubieten, dachte Lara. Aber Frau Braun setzte noch einen drauf. Sie holte tief Luft. »Erstens«, meinte sie. »Es wird im Haus nicht gerannt, keine Zigaretten, kein Alkohol. Um zweiundzwanzig Uhr ist Nachtruhe, Süßigkeiten gibt es nur nach Absprache.«
»Wie im Gefängnis?«, platzte es aus Sophie heraus.
»Also hör mal«, empörte sich Frau Braun. »Du solltest lieber dankbar sein, dass du nicht ins Heim musst.«
Lara versuchte sich einen Kommentar zu verkneifen, schaffte es aber nicht. Schließlich ging es darum, ihr kleine Schwester vor einer fremden Frau zu verteidigen. »Seien sie lieber dankbar, dass der Staat ihnen Geld zahlt.«
Herr Braun räusperte sich energisch, sagte aber kein Wort. Seine Frau hingegen schnaubte verächtlich. »Ich mache das, weil ich um euer Wohl besorgt bin. Das Heim ist kein guter Ort. Kinder brauchen ein Zuhause.«

»Ja, bei meiner eigenen Mama«, sagte Sophie und lehnte sich gegen die Fensterscheibe. »Bis es eurer Mutter wieder gut bin, bin ich eure Mama.« Frau Braun schaute nach hinten und lächelte. »Das bekommen wir schon hin. Es gibt nur noch ein paar mehr Regeln, zum Beispiel; die Betten machen nach dem Aufstehen. Das ist natürlich eine Frage der Höflichkeit.« Sie seufzte. »Darauf wird in der heutigen Erziehung viel zu wenig Wert gelegt ... «

Lara schloss die Augen und blendete sie Stimme aus. Schlimmer konnte es nicht werden. Erst der Streit mit Cas, Susi im Krankenhausbett gefesselt und dann das?!
»Lara?, Lara?!, Lara!«
Gott verdammt, was?, wollte sie fragen. Konnte diese Frau denn nicht sehen, wie fertig sie waren und das sie Ruhe brauchten, einfach nur Ruhe? Lara hielt die Augen geschlossen und stellte sich schlafend. Sie hoffte Sophie würde es ihr gleichtun, denn nur so konnte sie der Regelpredigt entkommen. Bei den Brauns angekommen, verstießen sie gleich gegen eine Regel, die Lara nicht mehr mitbekommen hatte. Mit Schuhen ins Haus gehen. Das ging gar nicht, sie sollte sich schämen!

Danach ließ sie ihre Zahnbürste zu offen auf der Ablage, in dem, in dunkelgrünen Fließen gehaltenen Badezimmer, liegen und machte eine zu große Sauerei beim Duschen. Sophie erging es ein wenig bessern. Sie schien etwas mehr Feingefühl für Frau Brauns Regeln zu haben als Lara.
Das Abendessen verlief sogar ohne Zwischenfälle und sie durften Frau Brauns Namen erfahren - welche ehre: Klara.
Sie bestand allerdings weiter darauf, gesietzt zu werden und Lara hatte damit kein Problem.
»Würden Sie mich dann bitte auch Sietzen?«, fragte sie.

»Du bist ein Kind«, antwortete zur Ausnahme mal Herr Braun. »Du sietzt und wir dutzen dich. Ende der Debatte.« Welche Debatte, fragte sich Lara und spürte wie ihr rebellisches Ich langsam erwachte. Auch wenn sie nur für eine kurze Zeit hier leben mussten, würde sie sich nicht alles gefallen lassen. Nur für heute ließ sie es gut sein. Heute, fühlte sie sich einfach nur noch leer und müde.

Als sie in dem kleinen Bett, in ihrem riesigen Zimmer mit weißen Baumwollteppich, antiken Schreibtisch und einer überdimensional großen Uhr an der Wand neben der Tür, lag, dachte sie an Cas, an das Feuer und an die schiere Angst, die sie überkam, als er in den Flammen verschwand. Sie fragte sich immer wieder, wie er so dumm gewesen sein konnte, einfach loszurennen. Hätte er nicht Mal eine Sekunde nachdenken können? Was, wenn sie ihn verloren hätte? Ihn und Sophie? Dann blieb nichts mehr, absolut nichts mehr von ihr übrig, außer die Asche der Mondfeen am Grund des Bodensees. Lara schlug die nach alte Oma stinkende Decke weg, stand auf und lief zu dem großen Fenster gegenüber des Schreibtisches. Sie konnte auf ein Stück ungeschmückten Rasen und die dahinterliegenden Wohnblöcke sehen. Für einen Moment dachte sie daran, einfach abzuhauen, aber wo sollte sie hin? Cas konnte sie gerade nicht sehen. Kyle lebte noch bei seiner Mum und außerdem konnte sie Susi nicht allein lassen. Seufzend ließ sie sich auf einen breiten Holzstuhl mit Polster und geschwungener Armlehnen sinken und schaute sehnsüchtig zum halbrunden Mond hinauf.

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