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Der Morgen vertrieb die Nacht mit sanft goldenen Strahlen, die zögerlich durch das Fenster lugten. Lara lag wieder in dem nach Desinfektionsmittel stinkendem Bett und alles an was sie denken konnte war; Cas, Cas, Cas, Cas, Cas ...

Sie versuchte sich abzulenken, indem sie in dem Buch NUMBERS las, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Lara dachte an seine warmen Lippen und an seinen unwiderstehlichen Geruch nach Wald. Ihr Herz fühlte sich an wie ein knallroter Luftballon, der davonfliegen wollte. Ein Dauergrinsen stellte sich auf ihrem Gesicht ein, was Kyle und Suis, die sie nachmittags besuchen kamen, natürlich nicht entging. »Ist das Buch denn so gut, du grinst wie ein Honigkuchenpferd«, sagte Susi zu ihr und blätterte selbst darin. »Sie sieht aus als hätte sie eine Glückspille geschluckt«, meinte Kyle und spielte an seinen Fingern. Lara lächelte. »Ich bin einfach nur richtig ausgeschlafen«, log sie. Cas blieb ihr Geheimnis. Vorerst. Ihr gefiel dieses kribbelnde Gefühl und es gehörte ganz allein ihr. Ihr und Cas. Kyle schaute auf seine Uhr. »Schon viertel nach fünf.« Er seufzte gedehnt, verschränkte die Hände hinter den Kopf und grinste breit. »Muss noch zu einem Fußballspiel von meinem Bruder. Bellas Schwester ist in seiner Mannschaft. Also wird sie auch da sein.«

Lara horchte auf. »Du und Bella?«

Er zog die Schultern hoch und fuhr sich durch das goldblonde Haar, welches er allem Anschein nach, ein wenig wachsen gelassen hatte. »Wer weiß ... aber sie ist echt ... « Er pfiff durch seine Zahnlücke.

»Sei nicht so oberflächlich, Kyle.« Lara lachte. Sie wusste, ihr Freund und fast schon Bruder, war alles andere als oberflächlich. Er tat nur so. Seine Art von Tarnung. Eine Maske. Lara ließ sich in das Kissen sinken. Jeder Mensch trägt eine Maske, dachte sie, und das Leben, ein großer Maskenball. Und die Liebe ... Sie spürte wie sich ihre Wangen erhitzen. Die Liebe ist dazu da, vorsichtig hinter die Maske zu schauen und sie dann zu zertrümmern. Stück für Stück. »Erhol dich gut«, sagte Kyle und wuselte ihr durch das Haar. Lara erschauderte ein wenig. Zum ersten Mal in ihrem Leben störte sie diese Berührung, als wären ihre Haare für jemanden anderen bestimmt. Jemand, mit Augen so blau wie der Ozean und Haaren so schwarz wie die Nacht – sie hätte Schneewittchen umschreiben können.

Kyle verabschiedete sich und Lara blieb allein mit Susi zurück. Sophie war Zuhause geblieben, erholte sich noch ein bisschen. Susi seufzte und legte das Buch auf den kleinen Nachtisch. Irgendwie musste Lara bei der Geste an ihre Mutter denken. Sie müsste jetzt eigentlich hier sitzen und über sie wachen, aber das tat sie nicht. Nein ... Susi hatte ihr erzählt, sie sei in die geschlossene Psychiatrie überwiesen worden. Vermutlich besser so. Sie durften sie nicht besuchen, für mindesten sechs Wochen lang. Lara kümmerte das gerade herzlich wenig. Sie wollte ihre Mutter nicht sehen. Da saß ein Klumpen Wut in ihr, fast wie ein verdammtes Magengeschwür, und er würde sich nicht so leicht lösen. Für Sophie tat es ihr leid. Sie war schon immer das Mutterkind gewesen und für sie musste es sich fast anfühlen, als hätte sie beide Elternteile verloren.

»Soll ich dir eigentlich was zum Abendessen mitbringen? Hab gehört, so ein Krankenhausfraß wäre scheußlich.«

Lara lachte. »Ja, da hast du recht.« Sie hatte diesen pampigen Kartoffelpüree und die seltsamen Grünkernbuletten kaum angerührt. Lara aß generell kaum und auch jetzt konnte sie nicht von großem Hunger sprechen. »Ich brauche nichts, danke Susi«, sagte sie also.

Aber Susi blieb hartnäckig. Das blieb sie immer. »Du hast abgenommen, Kleine.« Sie strich über ihren Unterarm. »Ich bring dir Crêpes mit, von diesem Café, hier ganz in der Nähe. Mit viel Schokolade und Kirschen.« Man konnte sagen, was man wollte, aber das hörte sich gut an. Hunger hin oder her. Crêpes konnte Lara immer essen. IMMER. Okay, es sei denn sie hing kotzend über der Kloschüssel, dann wohl eher nicht. »Da kann ich schlecht nein sagen«, antwortete sie und unterdrückte nur schwer ein Gähnen. Sie war alles andere als ausgeschlafen, aber sie würde noch viel mehr Nächte durchmachen, nur um bei ihm zu sein. Bei ihm, der sich den ganzen Tag noch nicht blicken gelassen hatte. Dummerweise hatte Lara ihr Handy verloren, also konnte sie ihm nicht schreiben – und er ihr auch nicht. Susi klatschte auf ihre Oberschenkel. »Na, dann werde ich mal welche besorgen«, sagte sie und stand auf. »Susi, mit viel Schokolade!«, rief Lara ihr noch zu, als sie an der Türschwelle stand.

»Nur ausnahmsweise.« Susi zwinkerte, dann war Lara allein.

Sie schloss die Augen und ließ die Erschöpfung über sie herfallen. Es fühlte sich an wie ein warmes Meer, das ihre Glieder umspülte, in sie eindrang, sie schwer und müde werden ließ.

Lara hätte lieber Zuhause geschlafen, aber das Problem war das Fieber und die furchtbaren Ohren- und Halsschmerzen, mit denen sie am Morgen erwacht war und die sie gerade nur nicht spürte, weil die Ärzte ihr ein Wundermittel gegeben hatten. Eine Nacht wollten sie sie noch überwachen, dann durfte sie nach Hause. Sie schlief ein und träumte. Träumte von einem weißen Haus, ganz aus Tauben. Sie strich mit der Hand über die Wände aus weißen Federn. So schön weich, dachte sie. Es roch nach Salz und schlagenden Herzen. Genau genommen, konnte man schlagende Herzen nicht riechen, es sei denn, man war so ne Art Hyperwesen. Aber dennoch, Lara roch die Lebendigkeit – ein wenig nach Kirschblüten im Frühling. Das ganze Haus pulsierte in einem gemeinsamen Herzschlag. Und dann löste es sich in tausende Flügel und Schnäbel auf. Die Tauben kreischten und flogen dem blauen Himmel entgegen. Lara stand auf einem Floß und unter ihr zog sich das tiefblaue Meer. Sie kniete sich nieder, schaute hinein und erkannte ihn. Das Meer war Cas. Und dann erhob sich eine Gestalt aus dem Wasser, in ein grünes Gewandt gekleidet und mit schwarzem Haar. Von einem Moment zum nächsten, war Cas nicht mehr das Meer, sondern stand neben ihr, hielt ihre Hand und schaute mit ihr in die Ferne. Der Geruch von warmen Teig, Schokolade und Kirschwasser stieg ihr in die Nase. Sie wusste, dieser Geruch gehörte nicht hier her und obwohl sie nicht gehen wollte, musste sie diesen Ort verlassen.


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