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Sie standen um Susis Bett herum. Lara, Cas, Kyle, Sophie und die beiden Polizisten.
Lara berichtete ihnen alles. Von ihrer Begegnung mit Primo bis zu der Stelle, in der sie ihm in den Magen geschlagen hatte. »Das war sehr riskant von Ihnen«, sagte einer der beiden. Ein mittelalter Mann mit dunkelgrauem Haar und gütigen Augen. »Dieser Primo ist uns durchaus bekannt, daher werden wir dem Hinweis nachgehen. Haben Sie die Nummer seines Bruders? Es wäre sehr hilfreich, wenn wir mit ihm sprechen könnten.«

»Am besten, sie fangen ihn vor der Schule ab«, schlug Lara vor und erklärte den beiden, wann und wo Carlo Unterricht hatte. Susi stierte die meiste Zeit nur gerade aus und sagte sehr wenig. »Wenn es dieser Primo war, dann möchte ich ihn anzeigen«, sagte sie nur und schaute auf ihre Beine. Beine, die sich nie wieder bewegen würde. Lara konnte sich nicht vorstellen, wie schrecklich das sein musste. Ohne ihre Beine wäre sie verloren, dann könnte sie kein Jiu jitus machen, oder rennen, oder laufen ... Es war nicht fair, das alles war nicht fair.

Freitag, 18 Dezember. Bald wurde sie achtzehn und dann war sie frei.

Nachdem Besuch im Krankenhaus gingen sie Maike abholen. Cas hielt dabei fest ihre Hand und Kyle kümmerte sich liebevoll um Sophie, die aufgeregt auf und ab hüpfte. Sie trafen sich nicht vor der Psychiatrie, darum hatte Maike gebeten, als Lara kurz mit ihr telefonierte. Lara konnte das verstehen. Sie wollte damit abschließen und wohl nicht, dass ihre Kinder sahen, wo sie über einen Monat leben musste. »Geht es dir gut?«, fragte Cas an ihrer Seite. »Ja. Bald ist es vorbei, bald ist alles vorbei.« Doch noch zögerte sie. Noch gab es Zweifel, oder einfach nur Angst? Angst wirklich, wirklich loszulassen?

Sie sah zu Kyle, der Sophie auf seiner Schulter reiten ließ. Er lachte sie an, aber das Lachen konnte seine Augen nicht erreichen. Vielleicht wusste er es. Sie hatten sich verloren. Es gab keinen Streit, keine große Auseinandersetzung, aber seit dem Tod ihres Vaters, seit dem sie Cas kennen gelernt hatte, waren sie wie zwei Eisschollen, die in unterschiedliche Richtungen strömten. Er würde nicht allein sein. Er hatte Bella, Domink und auch zu Hanna hatte er eine flüchtige Freundschaft aufgebaut. Und auch Sophie wäre nicht allein. Maike würde sich um ihre Tochter kümmern. Jetzt, noch mehr denn je. Das spürte sie. Sie musste, wenn sie Sophies Leben retten wollte. Maike würde sich auch um Susi kümmern, bis es ihr besserging. Susi würde kämpfen, sie würde schon klarkommen. Little Fighter, dachte sie. Aber sie hatte genug gekämpft. Zeit die Waffen niederzulegen, Zeit durchzuatmen, Zeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Zeit ... Lara wollte sie neu definieren.

Sie trafen sich in dem veganen Café, welches einmal Konkurrenz für das Wunderkästchen darstellte, aber das Wunderkästchen war einmal. Maike saß mit geflochtenem Haar und sauberer, weißer Bluse an einem der runden Tische in der Ecke.

»Da ist sie!«, rief Sophie aufgeregt und kletterte von Kyles Schulter. »Das ist Mum!«

»Wir warten dann hier«, sagte Kyle und Cas drückte ihr noch einmal aufmunternd die Schulter.

»Das wird schon«, sagte er. Sie nickte nur, nahm Sophie an der Hand und betrat mit ihr das Café. Es roch nach frischen Kuchen und Puderzucker. Maike stand auf als sie sie sah. Sie strahlte über beide Ohren und schloss Sophie in ihre Arme, die stürmisch auf sie zu rannte.

»Ich habe dich so vermisst«, sagte sie mit Tränen in den Augen. Lara blieb vor dem Tisch stehen und betrachtete Maike. Sie sah gut aus. Keine Augenringe, eine gesunde rosige Haut und frisch gewaschenes Haar. Ihre dunklen Augen wirkten nicht mehr trüb sondern hellwach.

»Euch beide«, schluchzte sie und schloss auch Lara in ihre Umarmung ein. Sie ließ es geschehen, doch es berührte sie kaum. Noch immer tobte die Wut in ihr, nicht nur wegen sich selbst, sondern auch für Sophie. Lara löste sich aus der Umarmung. »Sophie hätte dich gebraucht«, sagte sie.

»Es tut mir leid.« Maike strich Sophie über das braune Haar. »Setzten wir uns doch hin.«

Sie setzten sich. Maike bestellte eine vegane heiße Schokolade für alle und dann berichtete sie von ihren Plänen und dass alles besser und anders werden würde. Lara hörte nur mit einem Ohr zu. Sie dachte daran, wie sich Freiheit anfühlte. Ein sanfter Nervenkitzel auf ihrer Haut, die Arme ausbreiten und losfliegen. Es gibt kein zurück. Lara wollte kein zurück.
Sie schaute zu ihrer Mutter. Eine schwarze Haarsträhne fiel ihr aus der Hochsteckfrisur. Lara erinnerte sich an dem Tag, an dem sie die Lichterketten für Halloween aufgehängt hatte. Dort war ihr auch eine Haarsträhne in die Stirn gefallen. Sie hatte gelächelt und wollte, dass sie Hausaufgaben machte. An diesem Tag war sie Cas das erste Mal begegnet. Seitdem war so viel geschehen. Lara spürte wie sie sich im Herzen von ihrer Mutter verabschiedete. Sie lächelte ihr zu, ein ehrliches Lächeln, schenkte es nur ihr allein. »Ich bin froh, dass du wieder da bist«, sagte sie. Maike unterbrach ihr Gespräch mit Sophie über ihren Plan, demnächst als Krankenschwester zu arbeiten und sah Lara an. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem leichten Lächeln und ihre Augen glitzerten. »Ich auch«, sagte sie. »Ich auch.«

»Wir werden umziehen«, verkündete Maike nach einer Weile. »Sobald Susi aus dem Krankenhaus entlassen wird. Ich werde mich um einen Job in Köln bewerben, das Krankenhaus sucht dort jemanden. Susi wird mit uns kommen.«

»Hast du schon mit ihr darüber geredet?«, fragte Lara.

Maike schüttelte den Kopf. »Wann denn auch? Aber das Wunderkästchen ist nicht mehr. Und wir brauchen alle einen Neuanfang.«

Wohl wahr, aber Laras Neuanfang würde anders aussehen. Fünf Tage, dachte sie. Nur noch fünf Tage.

Als sie aus dem Café kamen, warteten Kyle und Cas immer noch auf sie. Lara stellte Maike ihren Freund vor. Sie begutachtete ihn skeptisch, nickte dann aber anerkennend. »Danke, du hast dich um meine Tochter gekümmert.« Was bei ihr so viel hieß wie: Dankte, fürs Kümmern, aber ab jetzt übernehme ich wieder.

Maike nahm ihre beiden Töchter mit sich nach Hause. Sie räumten alles auf, staubsaugen und wischten anschließend. Das Amulett von Laras Butter brannte auf ihrer Haut unter dem Sweatshirtpulli. Maike ging einkaufen und machte etwas zu Essen. Veganer Nudelauflauf. Es schmeckte seltsam. Nach Vergangenheit. Maike lächelte Sophie an, die ordentlich reinhaute. »Du hast die Augen deines Vaters. Du bist ein wunderschönes Mädchen.«

»Danke«, murmelte Sophie und rieb sich den Nacken.

»Lara? Kannst du mir das Salz reichen?«

»Sicher.« Sie reichte Maike das Salz. Noch fünf Tage...

In dieser Nacht schlief Lara nicht gut. Sie wälzte sich in ihrem Bett hin und her und träumte von ihrem Vater. Sie sah ihm am Küchentisch sitzen. Langsam löste sich alles um ihn herum auf. Seine Müslischüssel, der Tisch, die Stühle, bis nur noch er und sie übrig blieben in einem Raum aus reinem Weiß. »Wo immer der Wind dich hinzutragen vermag, ich werde dein sicherer Turm sein«, sagte er, ehe er sich selbst in glitzernden Kristallstaub auflöste. Der Wind trieb den Staub in ihre Richtung und verwandelte ihn in eine weiße Taube, die sich auf ihre Schulter setzte und flüsterte: Frei, sei frei. Frei, sei frei.

Am nächsten Morgen gingen sie einkaufen. Sophie durfte sich ein neues Buch aussuchen, für den Umzug. Maike wollte Lara neue Bettwäsche kaufen, aber darauf verzichtete sie. Sie wollte nicht, dass sie Geld für sie ausgab, nicht mehr. Mittags half Lara ihr, Bewerbungen zu schreiben und sie besuchten Susi, die sich langsam, aber sicher erholte. Der Psychiater von Maike, Dr. Uhr hatte ihr versprochen vorbei zu schauen und nach ihr zu sehen.

»Du bist ein Kämpfer«, sagte Lara zu ihr und drückte ihre Hand. »Du kannst alles schaffen, da bin ich mir sicher.«
Susi lächelte ein kleines Bisschen. »Das Leben geht immer weiter, was?«

Lara nickte. »Ja. Und dieser Primo wird schon noch seine gerechte Strafe bekommen.«
»Er könnte mir seine Beine geben.« Sie lachte, aber es klang traurig.
Lara gab ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Hab dich Lieb, Susi«, flüsterte sie. Auch von ihr verabschiedete sie sich im Herzen. Sie blieben noch eine ganze Weile, aber dann musste Lara los. Sie hatte sich kurzfristig einen Job als Babysitterin bei der älteren Schwester von Hanna besorgt, die zwei kleine Jungen Zuhause hatte und den Abend und die Nacht mal für sich haben wollte.
Fünfzig Euro gab es dafür. Nicht gerade viel, aber ein Anfang. Am Montag und Dienstag würde sie Herr Gruber mit seinem Stand aushelfen, der ihr nochmal fünfzig Euro versprochen hatte. Sie wusste, es würde ihnen kaum weiterhelfen, aber Cas ging auch arbeiten und wollte Überstunden machen. Lara konnte einfach nicht still sitzen bleiben. Die Ungeduld wuchs und wuchs in ihr und mit ihr auch die Vorfreude.

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