Seltsam. Es schien als würde der Himmel mit ihr weinen. Ein langer, klagender Schrei in Form des Windes, der durch die holen Baumstämme nahe des Friedhofes heulte und der Regen, der die Tränen aus den Gesichtern wusch und auf den Boden, den schwarzen Sarg in dem viereckigen Loch spülte. Es sah so falsch aus - dieses Loch. Nicht wie der natürliche Prozess des Sterbens. Aber das war in Ordnung. Laras Vater war nicht natürlich gestorben, sondern durch die Hände der menschlichen Erfindungen wie Auto oder Straße.
Maike schniefte laut neben ihr. Sie trug einen langen schwarzen Rock und einen Mantel. Sophie hielt eine rote Rose in der Hand. Ihr schwarzes Rüschenkleid wehte im Wind. Laras Vater mochte Tulpen keine Rosen. Sie ballte die Hände zu Fäusten und starrte auf das Grab hinab. Kyle legte einen Arm um ihre Schulter. »Alles okay?«
»Nein.« Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres Wollmantels über die Augen. »Ich weiß nicht, ob jemals wieder etwas okay sein kann.«
Kyle drückte sie gegen seinen Oberarm. »Mit der Zeit.«
Wenn das so war, wollte Lara die Zeit vorspulen, an einen Tag, an dem die Sonne schien und die Tränen längst vergangene Erinnerungen. Aber wenn sie die Zeit vorspulen konnte, konnte sie sie ebenso wieder zurückspulen und den Unfall verhindern. Sie seufzte und schloss die Augen. Der Regen fühlte sich kühl auf ihrer erwärmten Haut an. Es hatte keinen Sinn. Die Gegenwart blieb und dennoch verstrichen die Sekunden. Wenn auch endlos, aber sie verstrichen. Als sie die Augen wieder öffnete, lag Sophies Rosa auf dem schwarzen Sargdeckel. Es sah schön aus. Das Blut auf dem Ebenholz ... Schneewittchen. Wie dumm, jetzt daran zu denken. Lara wünschte sich Schnee. Er würde alles weiß machen. Weiß und rein. Sie fühlte sich schmutzig, fast so als wäre es ihre Schuld, dass ihr Vater nun da unten lag. Aber das war es nicht. Der Pfarrer sagte ein paar Worte. Die Leute um Lara herum fingen an zu weinen. Es musste rührend sein. Aber Lara hörte nicht zu. Sie hatte einige Worte für ihren Vater zurechtgelegt. Worte, die sich nun in einer inneren Stille verloren. »Ruhe in Frieden«, dachte sie nur. So etwas sagte man doch, oder? »Mögen die Insekten satt an der verlassenen Hülle werden«, dachte sie weiter. Ein bitteres Grinsen huschte über ihre Lippen und sie wandte den Kopf ab.
Lara spürte wie Kyle sie fester an sich drückte, als könnte sie fallen und gleich selbst dort unten liegen. Sie ließ die Tränen laufen. Lara teilte den Schmerz, der ihr Herz zu zerteilen drohte, es doch niemals tat, mit den Anwesenden - zumindest mit denen, die ihren Vater sehr nahe standen. Und dennoch fühlte sie sich so allein und unverstanden wie noch nie in ihrem Leben. Sie dachte an Cas. Am Sonntagmorgen war sie leise aus seiner Wohnung verschwunden, bevor er erwacht war.
Lara schaute in den dunkelgrauen Himmel. Die Wolken zogen schnell an ihnen vorbei. Montagvormittag. Cas antwortete nicht auf ihre SMS. Dabei wollte sie nur wissen, wie es ihm ging. Sie wollte auch wissen, wie es ihrem Dad ging. Wo er jetzt wohl war? Konnte er sie sehen oder war er schon weit weg? »Ich liebe dich, Dad«, schickte sie ihre Gedanken in den Himmel. Was wenn nach dem Tod einfach nichts kam? Nein! Lara schüttelte den Kopf und presste ihre Hände auf die Brust. Sie glaube fest daran, der Tod war nicht, konnte nicht, durfte nicht das Ende sein ...
»Ich bin bei dir«, flüsterte jemand. Und erst dachte sie, es wäre ihr Vater. Dann, und sie wusste nicht warum, erwartete sie, dass Cas neben ihr stand und sie tröste. Aber es war Kyle. Lara schämte sich. Sie wollte nach Hause.
Den Totenschmaus ließ sie gewissentlich ausfallen. Eine dumme Tradition. Wie sollte sie auch nur das Geringste runter bekommen? Kyle fuhr sie. Er musste gleich wieder zurück zum Kindergarten. Eigentlich war heute sein erster Arbeitstag, aber für die Beerdigung hatte er frei bekommen. »Sorry«, murmelte er, als er vor ihrem Wohnblock hielt. »Ich will dich ungern alleine lassen, aber ... «
»Ist schon gut, Kyle«, sagte Lara und biss sich kurz auf die Unterlippe. »Das Leben muss weitergehen. Ich komm schon klar.«
Kyle seufzte. »Das sagst du immer ... ich lass mein Handy in der Hosentasche ... und du kannst mich auch im KG besuchen, wenn du willst.« Er lächelte. Kyle sah gut aus, bemerkte Lara. Aber auf eine andere Art wie Cas. Er hatte dieses freche, ein wenig badboyhafte Gesicht und Augen, die immer provozierend leuchteten. Cas hingegen, er war ... anders. Seine Augen, als würde er durch die Dinge hindurchsehen. Sie schüttelte sich. Was dachte sie da nur?
»Ist dir kalt?«, fragte Kyle.
Lara schüttelte den Kopf und stieg aus. »Wir sehen uns später.« Sie blieb vor der Haustür stehen, betrachte den Putz, der so langsam abbröckelte und rauchte eine. In ihrer Manteltasche vibrierte es.
Hanna:
Hab gehört was passiert ist.
Mein Beileid, wirklich :( Das muss schrecklich für dich sein.
Kommst du denn morgen wieder ins Training?Lara seufzte. Sie hatte gehofft, Cas hätte geantwortet. Hanna war ihre Trainingspartnerin. Training ... es konnte wahrscheinlich nicht schaden. Ablenkung, pure Ablenkung.
So musste sie abends nicht ertragen, wenn ihre Mutter heulend auf dem Sofa saß und Unmengen Sake und Tequila in sich reinschüttete. 1. Das war eine widerliche Mischung. 2. Ihre Mutter vertrug nichts. Lara würde ihre Schwester einfach mit zum Training nehmen.

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Scherbenbild
Ficção GeralLara verliert ihren Vater, der nach einem Unfall hirntot ist. Cas(♂) Mutter bekommt sein Herz und eine neue Chance, doch sie scheint schon lange dem Tod zu gehören. Laras und Cas Liebesgeschichte beginnt an einem Ort der Hoffnung und der Verzweif...