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Lara beobachtete aus dem Fenster, wie die Sonne unterging, es dunkler und dunkler wurde. Sie überlegte aus dem Fenster zu klettern, aber sie wohnten zu hoch, sie würde sich besten Falls nur ein Bein brechen. Sie malte sich in Gedanken schon aus, wie sie die Tür eintrat. Eine ziemlich massive Tür ... und selbst wenn sie es schaffte, wie sollte sie an Maike vorbeikommen? Sie würde ihr wahrscheinlich sofort die Polizei auf den Hals hetzten, wenn sie es raus schaffte.

Die Zeit verstrich viel zu schnell. Lara wusste nicht wie spät es war, sie hatte ihr Hand nicht, aber allmählich wurde es Nacht. Das Licht im Badezimmer summte leise vor sich her und Lara versuchte mit ihrer Zahnbürste das Schloss zu knacken. Ein Hoffnungsloses Unterfangen.
Also doch das Fenster? Sie öffnete es und schaute auf den Gehweg unter ihr hinab. Sechs Meter, vielleicht Sieben. Womöglich sollte sie um Hilfe rufen, bis ein Nachbar kam und sie mit einer Leiter errettete. Aber das würde ihre Mutter auch mitbekommen. Außerdem hätte sie gerne ihre Sachen. »Cas«, versuchte sie ihn telepathisch mitzuteilen, »warte auf mich. Bitte warte auf mich.« Noch mehr Zeit verging. Sie lehnte sich gegen die Badewanne und versuchte krampfhaft die Tränen zu unterdrücken. Es musste sicher schon nach Mitternacht sein. Heute war ihr Tag, ihr erster Tag in ihrem neuen Leben. Sie konnte nicht länger warten ... Maike konnte ihr das nicht antun, sie schuldete ihr, dass sie losließ.

»Lass mich gehen«, flüsterte sie. »Lass mich gehen ... «

Eine Weile saß sie einfach nur still da und versank in tiefen, hässlichen Selbstmitleid. Doch dann hörte sie Schritte. Im nächsten Moment machte sich jemand am Schloss zu schaffen und die Tür schwang auf. Sophie trat vor sie und schaute mit tränenfeuchten Gesicht auf sie hinab. »Ich habe den Brief gelesen«, flüsterte sie und schloss die Tür hinter sich.

»Sophie ... « Laras Brustkorb verengte sich.
»Sag jetzt nichts«, sagte ihre kleine Schwester und setzte sich neben sie. »Hör mir einfach nur zu. Ich will nicht, dass du gehst. Ich liebe dich.«

»So-«

»Sei still«, zischte sie. »Lass mich reden.« Sie holte tief Luft und flüsterte weiter: »Aber große Geschwister ziehen irgendwann aus. Dad ist tot und er hat irgendwie immer alles zusammengehalten. Ich weiß schon ... Ich will wirklich nicht, dass du gehst. Ich will aber nicht, dass du bleibst, obwohl du nicht bleiben willst.« Sophie zog ihre Beine an die Brust.
Lara sah ihre kleine Schwester an, die auf einmal ganz groß war. Die letzte Zeit hatte auch sie verändert. In dem Grün ihrer Augen spiegelte sich die Tiefe ihres gemeinsamen Vaters wieder.
»Ich bin glücklich, weil Mum wieder da ist«, schluchzte sie. »Aber du nicht. Du bist immer unglücklich, aber du lächelst, wenn du bei Cas bist. Ich hoffe nur ... dass ich ... irgendwann auch so einen tollen Jungen finde.« Sie atmete schwer. Lara legte einen Arm um Sophie und zog sie an sich. »Ich liebe dich auch ... « Ihre Schwester vergrub das Gesicht an ihrer Schulter. »Bitte vergiss mich nicht.«
»Das ist kein Abschied für immer, Süße. Nur für eine ... ganze Weile.«
»Ok«, flüsterte sie nur und weinte leise vor sich her, während Lara sie in den Armen hielt.

»Wann musst du los?«, fragte Sophie irgendwann.

»Wie spät ist es?«

»Kurz nach eins.«

»Scheiße ... «

Sophie hob den Kopf. »Bist du schon zu spät?«

»Nicht unbedingt, wir wollten uns um Mitternacht treffen. Er wartet sicher.«

»Bestimmt.« Sophie stand auf und reichte ihr die Hand. Sie war so ein starkes Mädchen.

Leise schlich Lara die Treppe hoch und holte ihr Reisegepäck. Sophie half ihr noch beim tragen. Sie würde mit Maikes Käfer fahren, um schnell zum Bahnhof zu kommen und notfalls zu seiner Wohnung zu fahren. Lara gab Sophie einen Kuss auf die Stirn, als alles gepackt war. Sie hasste diesen Abschied ganz besonders, weil er ganz besonders weht tat.

»Danke ... «, murmelte sie und strich ihr über die Haare.

»Schon gut. Geh jetzt, bevor Mum aufwacht und ich alles vollheule.« Sie lachte leise. So ein tapferes Mädchen. »Du bist außergewöhnlich Sophie, weißt du das?«

»Ja«, brachte sie mit bebender Stimme hervor. »Das weiß ich und jetzt fahr schon ... «
Lara nickte, gab ihr einen letzten Kuss auf den Scheitel und stieg ein. Doch als sie den Schlüssel umdrehte, gab der Motor nur ein ersterbendes Rattern und Knurren von sich.
»Verdammte Scheiße«, fluchte sie. Versuchte es nochmal und noch einmal. Nichts. Tod.
Sie stieg aus und rief bei Cas an. Doch er ging nicht ran. Wieso ging er nicht ran?!

Kurzentschlossen holte sie die Tasche und ihren Rucksack vom Beifahrersitz und sagte zu Sophie, die immer noch vor der Haustür stand: »Ich werde laufen. Du ... du kannst ruhig reingehen.«

Sophie schluchzte. »Pass auf dich auf.«

Lara nickte. »Mach ein gutes Abitur, rebell ein wenig gegen Mum, und finde einen netten Jungen, der dich liebt.« Sophie nickte nur und verschwand dann im Treppenhaus.

Lara atmete tief ein und aus, hievte sich den Rucksack auf den Rücken und die Tasche über die rechte Schulter. Dann lief sie los und rief Cas mit der freien Hand immer wieder an. Warum, um alles in der Welt, hob er nicht ab?! Jetzt, gerade jetzt?! Lara beeilte sich, aber die Tasche bremste sie aus und mittlerweile lief ihr der Schweiß nur so den Rücken hinab. Kurzentschlossen, stellte sie die Tasche an den Straßenrand, stopfte das Wichtigste noch in den Reiserucksack und ging dann ohne die Tasche weiter. Sie schaute auf die Uhr. Schon halbzwei. Er wartete bestimmt nicht mehr am Bahnhof auf sie. Aber bis zu seiner Wohnung würde sie es zu Fuß vor Morgengrauen sicher nicht schaffen und dann war ihr Maike bestimmt schon auf den Fersen. Es musste heute Nacht geschehen. Lara glaubte, für alles gab es den richtigen Moment und wenn er verstrich, dann war es unmöglich zurückzukehren.

Es war wie die Frage: Liebst du mich oder liebst du mich nicht? Jetzt, oder nie, dachte sie und beschleunigte ihren Schritt. »Bitte warte«, flüsterte sie in den Nieselregen, der sie zumindest ein bisschen abkühlte. »Warte auf mich, Cas.«

Die letzten Meter durch die Stadt joggte sie mehr als sie lief und eigentlich rannte sie mehr, als sie joggte. Ihre Schultern fühlten sich an, als würden sie jeden Moment abfallen, doch das war ihr egal. Fünf vor zwei, vier vor zwei, drei vor zwei, zwei vor zwei – ja, sie zählte die Sekunden und Minuten, das half um konstant weiter rennen zu können. Eins vor zwei. Zwei. Eins nach zwei, zwei nach zwei, drei nach zwei. Sie sah den Bahnhof. Die letzten Meter. Sie stürmte am Hauptgebäude vorbei, nach hinten, zu den Parkplätzen. Als sie ankam und auf den leeren Parkplatz starrte, fiel sie vor Erschöpfung auf die Knie und weinte. Es war ihr scheißegal, ob sie jemand hörte, ob irgendein Penner kam, oder ein Vergewaltiger, sie würde alle fertigmachen, niemanden in ihrer Nähe dulden, außer ihn ... «

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