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1. November. Sonntagnacht. 

Cas saß am Steinstrand und starrte auf den dunklen See. In der Hand hielt er das Armband mit dem Mondstein. Sein Handy lag Zuhause – ausgeschaltet. 

So wusste er nicht, wann es passierte, denn niemand würde ihn erreichen können. 

Cas wollte nicht auf ihren Tod warten, er wollte, dass sie lebte, er wollte sie festhalten und zurück ins Leben ziehen. 

War es denn so schwer für sie, zu leben? Für ihn? Für sich selbst? Für all die Tage, die sie haben könnte? Für ihre Zukunft? 

Cas stand auf und wollte den Mondstein im See versenken, hielt aber mitten in der Bewegung inne. 

Der Stein fühlte sich warm in seiner Hand an. Er wollte ihn nicht hergeben. Wenn er den weißblauen Stein betrachtete, musste er nicht an seine Mum denken, sondern an Lara. 

Cas schaffte es gerade nicht, ihr auch nur zu schreiben. Was sollte er denn sagen? Nele ging es schlecht und die bittere Wahrheit: Sie zerstörte das Herz von Laras Vater. Wie könnte sie ihm das verzeihen? Wie könnte er das seiner Mutter verzeihen? Wie könnte er verzeihen, wenn sie starb?

Nach all den Jahren, nach dem sie zusammen gekämpft hatten? Oder hatte nur er gekämpft? Jetzt kam es ihm jedenfalls so vor. Er sah es auf einmal klar vor sich und es riss ihm fast das Herz raus; Sie wollte sterben. Seine Mum wollte sterben.

Er stand auf, eigentlich wollte er zurück ins Krankenhaus, ließ es aber diesmal sein, fuhr nach Hause und legte sich direkt schlafen. 

Schlafen schien besser als zu warten und es half vermutlich niemanden, wenn er vor Übermüdung umkippte. 

Lara hatte ihn gebeten, auf sich aufzupassen und wenn er schlief, dann tat er es für sie. 

Doch der Schlaf beförderte ihn in die Vergangenheit. Er stand wieder vor seiner alten Schule, das Handy ans Ohr gedrückt und hörte gerade die Nachricht: »Ihre Mutter ist zusammengebrochen. Können Sie ins Krankenhaus kommen?« Beim nächsten Wimpernschlag stand er im Krankenhaus und sah, wie sie Blut hustete. Eine beidseitige Lungenentzündung. Man pumpte sie ein paar Tage mit Antibiotika voll und entließ sie wieder. 

Cas sah, wie sie wieder arbeitete. Sie unterrichtete Deutsch und Englisch in einer Realschule. Er sah, wie sie schwitzte und sich in den Pausen vor Anstrengung übergab. Dann wachte Cas plötzlich bei sich zu Hause auf, in der kleinen Wohnung seiner Mutter in Berlin. Es duftete vertraut nach Lavendel und Kaffee. 

Ein rasselndes Husten war zu hören. Es kam vom Wohnzimmer und gehörte zu seiner Mutter.

Das hatte ihn geweckt. Dieses Geräusch weckte ihn immer. Im nächsten Moment war es Morgen und er fand sich in seinem 15-jährigen selbst wieder. 

Er und Nele saßen am Frühstückstisch. Licht fiel durch das offene Fenster und die Gardinen wehten sanft im Wind. Es roch nach frisch gekochten Eiern und Marmelade. 

Cas hatte dieses Frühstück gemacht, weil er seine Mutter entlasten wollte. Sie arbeitete immer sehr viel. »Mum, bitte geh zum Arzt«, hörte er sich sagen. Aber sie schüttelte nur den Kopf und rieb sich über die Augen, unter denen sich deutliche Ringe abzeichneten. »Ist schon gut, Cas. Ich muss heute nur in die Waschanlage. Danach lege ich mich hin, versprochen.«

Cas verschränkte die Finger ineinander und legte sie auf den Tisch. »Wieso hast du überhaupt zwei Jobs? Reicht es nicht Lehrer zu sein?«
»Ich möchte ein gutes Leben für dich.«
Cas stand auf und sah seine Mutter unschlüssig an. »Was ist mit dir?«, fragte er.
»Willst du kein schönes Leben?«

Seine Mum schaute aus dem Fenster. »Ich hatte meine Zeit«, sagte sie leise und rieb sich kurz über die Brust. Sie glaubte, Cas würde es nicht bemerken, aber er sah es. Er sah auch, wie sie langsam abmagerte und immer früher schlafen ging. Plötzlich war Cas nicht mehr der fünfzehnjährige Cas, sondern der achtzehnjährige und er wollte seiner Mutter sagen, dass sie sterben würde, wenn sie jetzt nichts tat, wenn sie nicht auf sich aufpasste. Aber er erwachte, bevor er auch nur einen einzigen Ton herausbrachte.

Montagmorgen, und er fuhr ins Krankenhaus, um sich das immer gleiche Bild anzusehen.
Er wollte es zertrümmern ...


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