Kyle fuhr mit ihr zum Wunderkästchen. Susi machte Pfannenkuchen und zusammen mit Sophie saßen sie dann im Café, aßen, spielten Monopoly und schauten dem Abend dabei zu, wie er seine langen Schatten über den Laden legte und das Licht in einem geheimnisvollen Goldton durch die Fenster warf. Es wurde dunkel und mit der Dunkelheit wurden die Wunden und all das Chaos unsichtbar. Lara schrieb Cas hin und wieder eine SMS und wollte wissen, wo er war, ob sie etwas für ihn tun konnte, aber er antwortete nicht. Und Lara hätte im Moment auch nichts für ihn tun können. Sie fühlte sich so erschöpft, als hätte sie drei Tage nicht geschlafen und so gingen sie auch sehr früh mit Susi nach Hause, während Kyle mit seinen Jungs loszog. Lara entfremdete sich von ihm, von seinem Leben, welches sie bisher geteilt hatten. Sie konnte gerade nicht losziehen, die Seele baumeln lassen und Spaß haben. Viel lieber lag sie in dem nach Zimt dufteten Wohnzimmer von Susi auf einer dünnen Matratze mit Sophie in den Armen und zahlreichen Wolldecken. Meditationsmusik plätscherte aus einer Anlage und aus der Küche drangen leise die Geräusche eine Spülmaschine. Lara brauchte in dieser Nacht nicht lange zum Einschlafen. In Susis kleinen Heim war sie sicher. Dennoch fühlte sich ihr Herz wund an und dieses Gefühl schlich bis in ihre Träume hinein.
Am Donnerstag erwachte sie sehr früh. Kurz nach fünf. Es war noch dunkel und eine Straßenlaterne warf ihr Licht durch einen Spalt der violetten Vorhänge vor dem Fenster. Lara lag eine Weile da und betrachte den Staub, der sich langsam setzte. Dann stand sie auf, ging in Susis kleine Küche und frühstückte Waffeln, die sie immer im zweiten Küchenschrank von links aufbewahrte. Danach schlich sie so leise wie möglich ins Bad und wusch sich an dem türkisblauen Waschbecken. Susi hatte ihnen am Abend noch Zahnbürsten besorgt und jetzt war sie ihr sehr dankbar dafür.
Lara zog sich einen schwarzen Pullover und eine helle Jeans an und verließ die Wohnung um fünf nach sechs. Sie lief durch die einsamen Straßen der Stadt und betrachtete das Licht der Straßenlaternen, welches sich im Frost der Nacht spiegelte. Überall glitzerte und funkelte es. Lara stieß die Luft aus und betrachtete die weißen Wölkchen vor ihrem Mund. Dann rief sie Cas an. Niemand nahm ab. Sie versuchte es erneut und als sie es ein drittes Mal versuchte, ging sofort die Mailbox an.
Laras Weg führte sie in die Schule. Sie hatte sich nur einen Block und ein paar Stifte in Susis alte, schwarze Umhängetasche gestopft, die sie seit Jahren nicht mehr benutzte. Lara wusste selbst nicht, was sie in der Schule wollte. Sie hoffte insgeheim, dass sie Cas dort antreffen würde. Aber er kam nicht. Die Schüler ließen sie in Ruhe. Carlo fehlte, ebenso wie Cas. Sabine versuchte freundlich zu ihr zu sein. Aber Lara war abwesend. »Wir könnten ja mal ins Kino«, sagte Sabine und setzte sich auf ihren Einzeltisch. Jetzt auf einmal? Nachdem sie Jahre lang nichts miteinander zu tun gehabt hatten?
»Nein Danke«, sagte sie und schrieb Hanna eine SMS: Willst du vielleicht heute Abend mit mir ins Kino?
Hanna kam so was wie einer Freundin am nächsten und sie durfte sozial nicht verwahrlosen. Zumindest würde das eine Sozialarbeiterin sagen. Erst als Hanna ihr zusagte, bemerkte sie, dass sie kein Geld hatte. In Mathe sah sie Herr Miller die ganze Zeit mit erhobenen Augenbrauen an, als erwarte er etwas von ihr. Eine Entschuldigung oder so. Aber sie würde sich ganz sicher nicht dafür entschuldigen, dass Carlo ein Arschloch war.
Frau Weiß legte eine Hand auf ihre und freute sich wohl ehrlich darüber, sie im Unterricht zu sehen. Lara erwartete, dass es noch irgendeine Sanktion wegen der Prügelei geben würde. Aber es kam nichts. Vielleicht dachten die Lehrer und der Direktor, sie hätte schon genug erlitten. So nach dem Motto; das Mädchen ist schon gestraft genug.
Am Abend fragte sie Susi nach ein bisschen Geld. Eigentlich wollte sie das nicht, vermutlich sollte sie sich einen Nebenjob suchen, aber Susi freute sich, dass sie etwas mit einer Freundin unternehmen wollte. Sie sah sich mit Hanna Tribute von Panem Teil zwei an. Hanna war total berührt. Und Lara beschloss das kleine, braunhaarige Mädchen neben ihr, als Freundin anzuerkennen. Mitreißen konnte sie der Film allerdings trotzdem nicht. Aber das hätte wohl im Moment kein Film geschafft. Vielleicht ein Film über einen Hirntoten, der als Geist durch das Krankenhaus wandelte, aber das wollte sie sich beim besten Willen nicht antun. Es tat aber gut, einfach mal einen Mädchenabend zu machen. Nach dem Film unterhielten sie sich noch im Foyer über das Training und welche Prüfungen bald anstanden. Hannas Mutter holte sie ab, Lara nahm den Bus. Sie wollte nicht in die Not einer Erklärung geraten, wenn sie Hannas Mutter sagen musste, dass sie doch bitte nicht zu ihrer Mum fahren sollte. Am nächsten Tag ging sie zusammen mit Sophie in die Schule. Wieder keine Spur von Cas.
In der ersten Pause stellte sie sich in eine Stille Ecke auf dem Hof, unter einer breiten Eiche und rief ihn an. Mailbox. Sie überlegte kurz, ob sie etwas draufsprechen sollte. Hinterließ ihm dann aber eine SMS.
Lara:
Cas, melde dich, wenn du das liest.
Ich mache mir Sorgen.Lara
In der zweiten Pause hatte sie immer noch keine neue Nachricht von ihm.
Und dann vergingen die Tage und er ging nicht an sein Handy, schrieb nicht zurück und Lara fühlte sich von Zeit zu Zeit immer leerer. Sie weinte nicht mehr und wenn sie in den Himmel sah, sah sie nicht weiße Schäfchenwolken, sondern die Augen ihres Vaters, die ihr beim Weiterleben zuschauten. Am Samstag traute sie sich in ihre Wohnung. Es sah nicht viel besser aus, als beim letzten Mal. Alles roch Muffig, aber immerhin nicht nach Erbrochenem. Sie fand ihre Mutter schlafend vor, auf dem Nachttisch lag eine Packung mit Aspirin. Sie überprüfte den Inhalt und musste erleichtert feststellen, dass nur zwei Tabletten fehlten. Halloween verbrachte sie mit Susi – aber nicht im Wunderkästchen, das hätte sie alle zu sehr an ihren Vater erinnert. Sophie ging zu ihrer Freundin Isabell und machte dort einen Schauerabend. Lara hockte mit Susi auf dem Sofa, sie aßen Popcorn, rauchten, obwohl Lara immer noch davon schlecht wurde, und schauten sich Uralthorrorfilme wie Dracula an. Kyle hatte sie eigentlich zu einer Party eingeladen, aber sie fühlte sich nicht danach.
Am Montag ging sie in die Schule und es fühlte sich ein klein wenig so an, als hätte sie der Alltag wieder eingeholt. Cas war nicht da. Sie sah sich immer als erstes nach ihm um. Lara fragte bei Herr Miller nach, warum er nicht kam. Herr Miller meinte, er wäre für zwei Wochen suspendiert, genauso wie Carlo. Mit dem Alltag, fingen ganz plötzlich auch die Lästerreien wieder an. Clair sagte ihr, Cas wäre ein Playboy und hätte schon mit ihr rumgeknutscht, bla bla. Flo klebte seinen Kaugummi auf ihren Tisch, Alex warf ihr ein Kondom in die Haare. Über ihren Vater verloren sie zu ihrem EIGENEN Glück kein Wort. So mutig waren sie dann doch nicht, dachte sie und ertrug die kleinen Hänselleien. Sie schrieb Cas an diesem Tag in jeder verdammten Pause.
Lara
Ich bin wohl jetzt wieder jeden Tag in der Schule. Habe von Herr Mill gehört, du wurdest suspendiert. Das tut mir leid ... :( Bitte melde dich doch bei mir.Lara
Clair meinte gerade, sie hätte mir dir rumgeknutscht. Sie will dich als Playboy darstellen. Ich hab ihr ins Gesicht gelacht. Seltsam, oder? Eigentlich kenne ich dich kaum, aber ich bin mir sicher, du bist kein Playboy :)
Lara
Cas? Bitte gib mir nur ein Lebenszeichen von dir. Du kannst auch einfach nur „." schreiben. Das würde schon reichen...
Lara
Okay, ich gebe zu, es ist etwas merkwürdig, dir so viele SMSen zu schreiben. Aber wo steckst du? Kai aus unserer Klasse hat nach dir gefragt. Anscheinend hat er deine Handynummer und wollte dich auf so ne öde Halloweenparty einladen.
Cas ... egal was ist, egal zu welches Tages- und Nachtzeit ...
Ach scheiße, melde dich.
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Scherbenbild
General FictionLara verliert ihren Vater, der nach einem Unfall hirntot ist. Cas(♂) Mutter bekommt sein Herz und eine neue Chance, doch sie scheint schon lange dem Tod zu gehören. Laras und Cas Liebesgeschichte beginnt an einem Ort der Hoffnung und der Verzweif...