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Cas wurde vom Mathekurs höchst skeptisch begutachtet.
»Cas«, begrüßte ihn Herr Miller und sah ihn mehr als skeptisch an. »Kommen Sie nach der Stunde bitte zu mir.« Cas nickte nur. Der erste Schultag fing ja schon mal super an. Er setzte sich auf den freien Einzeltisch in der Ecke. Dort hatte Lara gesessen, aber sie war nicht da. Er fuhr über die mit Bleistift gekritzelten Zeilen:

Zähle die Tage und Schritte
Wo stehst du nun, nach Tagen, Jahren?
Wenn du nicht frei bist, wirst du ankommen, wo du stehen geblieben bist.
Frei, sei frei
Frei, sei frei

Auf einmal wollte Cas wissen, wer sie war. Er wollte alles über sie herausfinden, jedes kleinste Detail an ihr erforschen. Jemand knallte schlaksige Hände auf seine Tischplatte.
»Hi, Cas«, sagte Carlo und grinste ihn spöttisch an. »Weißt du, wenn man neu an ne Schule kommt, sollte man sich lieber nicht gleich so aufspielen.« Ein blondes Mädchen tauchte neben ihm auf. Sie trug Tonnen an Schminke im Gesicht und roch auch danach. Cas kratze es im Hals. Er verdrehte die Augen. »Was wollt ihr?«

»Prügeln ist scheiße«, sagte das blonde Mädchen und liebkoste Carlos Arm.

»Miese Gerüchte verbreiten ist billig«, erwiderte er und sah dabei Carlo an. Der kaute auf seiner Unterlippe herum und funkelte ihn aus hellblauen Augen finster an.

»Weißt du, keiner hier kann dich leiden. Selbst schuld«, er lachte kurz.

Ein Lächeln huschte über Cas Mundwinkel. »Das ist gut«, sagte er nur, holte seinen Block heraus und fing an die Zeilen abzuschreiben, die Lara hinterlassen hatte.
»Schau ihn gefälligst an, wenn er mit dir redet«, sagte die Blondine. Sie hatte eine auffällig hohe Stimme, die Cas in den Ohren schmerzte. Er fragte sich unwillkürlich, ob die Arme tatsächlich so eine Stimme hatte, oder sie einfach nur den nächsten Ich–bin –heiß-und-toll – Award gewinnen wollte. Cas schaute hoch. »Lasst mich einfach in Frieden, ok?« Er lehnte sich im Stuhl zurück und sah die beiden abwartend an. Blondi lachte. Carlo sah irgendwie gequält aus. »Halt dich von mir fern, klar?«, sagte er und verpisste sich. »Klar?«, echote das Mädchen und zog ihre fett nachgefahrenen Brauen hoch, dann folgte sie ihm. Zombie, dachte er. Eine Welt voller Zombies.

Cas nahm sich einen Bleistift und schrieb unter Laras Zeilen:

Wenn du frei bist
Dann findest du dich in einem Land

voller kreativer Gedanken wieder

und dort lieben wir uns,Tag und Nacht
Tag und Nacht...

Cas wollte Lara etwas zu Weihnachten schenken. Er wusste nur beim besten Willen nicht was, außerdem fragte er sich so langsam, wo sie blieb. War sie krank, oder etwas mit Sophie, oder ihrer adoptiv Mum? Er holte sein Handy unter dem Tisch hervor, obwohl Herr Miller alle um Ruhe bat und seinen Unterricht anfing. Was kümmerte ihn das? Das meiste hatte er eh schon gehabt, aber im Prinzip scherte er sich nicht darum, ob er mitkam oder nicht. Er fühlte sich nicht danach, zu lernen oder später zu studieren. Vielleicht wollte er das einmal, aber gerade fühlte er sich danach zu laufen, zu laufen, zu laufen, zu laufen, an ihrer Seite und irgendwo anzukommen, wo es neu und schön war.
Er schrieb ihr eine SMS:

Cas:

Wo bist du? Alles okay bei dir?


Er stellte sein Handy auf vibrieren und schob es in seine Hosentasche. Dann wartete er. Herr Millers Worte prallten an ihn ab wie Regen an einer Fensterscheibe. Konzentriert kritzelte er sinnlose Muster in seinen Block, lehnte sich irgendwann zurück und stierte aus dem Fenster. Ein schöner Novembertag. Klarer, blauer Himmel und unten auf der Erde saßen Krähen auf den immer kahler werdenden Buchen und Eichen. Nach der Doppelstunde Mathe fühlte er sich todmüde und wäre am liebsten gleich wieder gegangen. Er musst herkommen, wenn er flog, würde er Probleme mit dem Amt bekommen, das bedauerlicher Weise seine Wohnung finanzierte. Und mit dem Geld, was er Dienstag und Donnerstagabend im Subway verdiente, kam er nicht über die Runden. Okay, vielleicht wenn er in einen Pappkarton zog. Immer häufiger spielte er mit dem Gedanken, die Schule abzubrechen und sich ne gut bezahlte Ausbildung oder einfach einen Job zu suchen.
Cas wartete bis seine Kurskameraden in die Pause verschwunden waren und stellte sich dann, möglichst lässig, vor Herr Millers Pult, der irgendwas in das Kursbuch schrieb.
»Cas«, sagte er, schaute auf und musterte ihn aus dunklen Augen. Er kratzte sich an der langen Nase und seufzte. »Wie kommen Sie mit? Sie haben einiges verpasst in den letzten beiden Wochen. Mit Carlo muss ich auch noch darüber reden, aber ich hielt es für klüger, einzeln mit Ihnen zu reden.«

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